Wie an verschiedenen Stellen dieser kleinen Artikelserie deutlich geworden ist, kann eine „Öffentliche Schulgeschichte des Untereichsfelds“ nicht geschrieben werden, ohne die Bestrebungen des katholischen Schulträgers immer wieder neu zu bewerten.

 

Seit dem Mauerfall, dem damit verbundenen Ende der DDR 1989 und mit den daraus entstehenden Möglichkeiten der zukünftigen Gestaltung des Zusammenlebens im Eichsfeld ergaben sich auch schulpolitisch für einige obereichsfeldische Kommunen aus dem grenznahen thüringischen Eichsfeld neue Optionen hinsichtlich des Besuchs der katholischen Sankt Ursula-Schule in Duderstadt. Diese nahm das Angebot dankbar an, ohne sich dabei auch nur ansatzweise um rechtliche und finanzielle Belange zu kümmern und das Land Niedersachsen und den Landkreis Göttingen in Kenntnis zu setzen. Die dort tätigen Lehrkräfte bekamen ihr Gehalt auf dem Umweg über das Bistum vom Land Niedersachsen, das Bistum erhielt die ihm zustehende Landespauschale, einen Sachkostenbeitrag und die nicht unerhebliche Miete für das Gebäude der Ursula-Schule.

Spätestens seit der Mitte der 90-er Jahre entbrannte zwischen Bistum und Landkreis eine Diskussion darüber, ob und in welchem Umfang die Finanzierung des Schulbesuchs von thüringischen Schülerinnen und Schülern durch das bisherige Vertragswerk juristisch abgesichert sei.[1] In einer Kurzmitteilung des Landkreises vom März 1997 wurden dazu erstmals Zahlen vorgelegt: Der Sachkostenanteil pro SchülerIn und Schuljahr betrug um die 500 DM, insgesamt besuchten im Schuljahr 1996/1997 schon 27 Schülerinnen und Schüler aus Thüringen die Sankt Ursula-Schule – mit deutlich ansteigender Tendenz.[2] Das Bistum argumentierte, im Vertragswerk - seinerzeit ausgehandelt zwischen dem Bistum Hildesheim und der Stadt Duderstadt - sei ausschließlich die Rede davon, dass für alle Schülerinnen und Schüler Zuschüsse gezahlt werden, und das unabhängig von ihrem - hier: thüringischen - Wohnort. Das war dem Wortlaut des Vertrags nach zweifellos richtig. Allerdings darf wohl auch vorausgesetzt werden, dass Mitte der 70-er Jahre auch im Eichsfeld niemand ernsthaft daran dachte, dass in naher Zukunft thüringische Schülerinnen und Schüler über die Grenze kommen würden, um in Duderstadt zur Schule zu gehen. Eine solche Entwicklung war – bei allem Respekt und bei aller Freude über die später folgende Wiedervereinigung Deutschlands und damit auch des Eichsfelds – dann doch nicht absehbar und konnte damit auch nicht Grundlage von Verträgen sein. In einer solchen Situation sprechen Juristen davon, dass eine vertragliche Regelung entsprechend dem hypothetischen Parteiwillen zu ergänzen ist. Es ist darauf abzustellen, was die Parteien in einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie den nicht geregelten Fall bedacht hätten. 

Der Landkreis Göttingen setzte sich daher mit seiner klaren Haltung und der aus seiner Sicht nicht anfechtbaren Rechtsposition durch und begann ab dem Haushaltsjahr 1997 damit, die finanziellen Mittel für die St. Ursula-Schule in dem Umfang zu kürzen, wie sie thüringische Schülerinnen und Schüler aufnahm.

Da eine stabile Finanzierung einer Schule für deren bildungspolitischen Auftrag zwingend notwendig ist und dieses finanzielle Fundament jetzt abzubröckeln drohte, gab es gleich zu Beginn des Jahres 1997 einen Antrag des Bistums Hildesheim an das Land Thüringen und den Landkreis Eichsfeld. Der Bischof äußerte darin den Wunsch, die beiden Angesprochenen mögen doch bitte im Interesse der offenkundig bewusst auf eine katholische Erziehung setzenden Eltern die ausfallenden Gelder des Landkreises Göttingen übernehmen. Dieser Wunsch wurde durch den damaligen Leiter des Schulverwaltungsamtes im Landkreis Eichsfeld in aller Klarheit und unmissverständlich zurückgewiesen. Man sei sehr verärgert über die heraufbeschworene Situation, müsse selber als obereichsfeldischer Schulträger eigene Schulen schließen und daraus folgend sehr viele Lehrerabordnungen durchführen. Ein geordnetes Schulwesen sei in diesen äußerst fordernden Übergangszeiten kaum noch möglich. Wenn überhaupt, dann müsse es eine geordnete Erlasslage zwischen den beiden Kultusministerien in Thüringen und Niedersachsen geben, die auch die Finanzierungsfrage regelt. „Der Landkreis Eichsfeld vermag nicht einzusehen, dass die Ursula-Schule die Schullandschaft zerstört und wir dafür auch noch bezahlen sollen.“ [3]

Der Bischof in Hildesheim nahm die doch recht entschiedene Ablehnung aus dem Obereichsfeld zur Kenntnis, die negativen Auswirkungen vor Ort waren ihm scheinbar egal. Das Hildesheimer Generalvikariat entschied, man könne und wolle auch weiterhin Thüringer Schülerinnen und Schüler aufnehmen, notfalls auch ohne einen Zuschuss aus Thüringen.

 

Bistum: „…wie ein Rückzug des Bischöflichen Generalvikariats vom Standort Duderstadt aufgefasst würde….“

Wer aber gedacht hatte, das Thema „Finanzierung und Erweiterung der katholischen Schule“ sei damit endgültig vom Tisch und das Bistum sei mit dem erreichten Status zufrieden, der wurde schon bald eines Besseren belehrt. Spätestens im April 1997 trafen sich in nicht-öffentlicher Runde als Vertreter des Bistums Dr. Riemann, als Vertreter des Landkreises Herr Schermann (Schuldezernent) und als Vertreter der Stadt die Herren Koch, BGM/MdL und Nolte (damals Stadtdirektor), um über die „Weiterentwicklung der St. Ursula-Schule in Duderstadt“ zu sprechen. Erneut ging es darum, die zahlenmäßige und qualitative Basis der Sankt Ursula-Schule zu verbreitern - konkret: einen Realschulzweig anzugliedern.

Das bei diesem Gespräch vorgelegte Zahlenwerk des Bistums wurde sehr schnell durchgestochen und einer vernichtenden Kritik durch einen interessierten - und offensichtlich ganz bewusst "angesetzten" - Schulleiter aus dem öffentlichen Schulsystem unterzogen. Das vorläufige Fazit der Gespräche lässt sich so zusammenfassen: „Einvernehmen war darüber im Ergebnis, dass es nur eine Neuregelung geben kann, wenn die anstehenden offenen und kontroversen Fragen in voller Übereinstimmung gelöst werden können. Dabei ist es ganz wichtig, dass auch der nachbarschaftliche Bereich außerhalb des Stadtgebietes Duderstadt (auch im Thüringer Eichsfeld) in die Gedanken mit einbezogen wird.“[4] Die letzte Passage ging - auch wenn hier von Thüringen die Rede ist - ganz klar gegen die Realschule in Gieboldehausen. Sie konnte geschwächt werden, jedenfalls war eine Schwächung des Gieboldehäuser Schulstandorts offenkundig kein Hinderungsgrund für weitere Verhandlungen. In diesem Gespräch wurde vor dem Hintergrund einer von Dr. Riemann erkannten deutlichen Zurückhaltung auf Seiten der kommunalen Vertreter zum ersten Mal durch das Bistum der Gedanke in den Raum gestellt, „…wie ein Rückzug des Bischöflichen Generalvikariats vom Standort Duderstadt aufgefasst würde….“[5] Der Bischof wolle „…hiermit keine Drohgebärde verbinden, sondern nur deutlich machen, dass über alle Handlungsschritte nachgedacht werden müsse.“[6] Aber: Mit dem Bekanntwerden dieses heimlichen Strategiepapieres zur Neustrukturierung der St. Ursula-Schule konnte jetzt zeitnah die öffentliche Diskussion beginnen. Und die wurde dort geführt, wo sie auch hingehört: im Kreistag!

Für den 12.3.1998 hatten die Kreistagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine erste Befassung mit dem Thema „Realschulzweig in der Sankt Ursula-Schule“ im Kreisschulausschuss vorgeschlagen.[7] Parallel dazu befasste sich der mittlerweile eingebundene und aufgeschreckte Dekanatsrat als Vertretung für die katholischen Pfarrgemeinden (und damit der potentiellen Schülerinnen und Schüler) nun mehr oder weniger öffentlich mit der Problematik, weil man erkannt hatte, dass das bisherige nicht-öffentliche Verhandeln der Sache mehr geschadet als genützt hatte. Im Vordergrund der Argumentation stand nun die Tatsache, dass die Sankt Ursula-Schule landesweit die einzige Konkordatsschule ohne einen Realschulzweig sei. Und nur das wolle man ändern und angleichen. Auf diese Argumentation wollte sich die SPD-Kreistagsfraktion nicht einlassen und stellte in den Fokus ihre große Besorgnis hinsichtlich der Gefährdung der Heinz-Sielmann-Realschule und der Gieboldehäuser Realschule. Das öffentliche System hatte für die SPD in jedem Fall Vorrang. Für die Kreistagssitzung am 3. Februar 1999 brachte die Fraktion eine Resolution ein mit dem Ziel, das Bistum zu bitten, seine „…Absichten zur Errichtung einer Realschule in kirchlicher Trägerschaft in Duderstadt nicht weiter zu verfolgen.“ [8]

Um zu retten, was nicht mehr zu retten war, hatte der Dekanatsrat sich selber ins Spiel gebracht und unter dem Datum des 27.1.1999 Kreispolitiker, Lehrkräfte und Mitglieder des Dekanatsrats zu einem Informations- und Gedankenaustausch zum Thema der Erweiterung durch Realschulklassen für den 18.2.1999 ins Pfarrheim nach Duderstadt eingeladen. Aus der Ursula-Schule war niemand dabei, deren Vertreter verweigerten das gemeinsame öffentliche Gespräch und pflegten weiter das vertrauliche Gespräch mit der schulpolitisch überhaupt nicht zuständigen Stadtspitze. Dieses durch den Dekanatsrat angeregte Gespräch kam allerdings nicht mehr zustande, weil der Kreistag zwischenzeitlich – am 3.2.1999 – den Antrag auf Schaffung eines Realschulzweiges an der St. Ursula-Schule mit der Mehrheit der  Stimmen von SPD und Grünen und anderen Fraktionen abgelehnt hatte. Diese Entscheidung führte zu einer schweren Verstimmung bei den Vertretern des Dekanats. Der damalige Vorsitzende Heiner J. Willen monierte, dass ein Kreistag nicht über Absichten abstimmen könne, die er offiziell noch gar nicht zur Kenntnis genommen habe. Er plädierte - erfolglos - für eine Verschiebung des Antrags. [9]

Die beiden Schulleiter der öffentlichen Realschulen in Duderstadt und Gieboldehausen nahmen den Kreistagsentscheid mit Zufriedenheit entgegen: „Die Taktik der kirchlichen Schulbehörde, zuerst Gespräche zu führen und erst bei sicherer Zustimmung den Antrag zu stellen, ging diesmal nicht auf, sagt Kolle (Leiter RS Duderstadt). Zudem sei ihm unklar, mit welcher Legitimation Dekanatsräte überhaupt mitdiskutieren wollten: Willen sollte sich mit seiner massiven Kritik am Kreistag tunlichst zurückhalten und die Politiker nicht über demokratische Standards belehren.“ [10]

Für wenige Jahre kehrte Ruhe ein, bis die Diskussion um die Abschaffung der Orientierungsstufe und die daraus folgenden Konsequenzen begann. Aber das ist ein neues Kapitel….

 

[1] Kreisarchiv Landkreis Göttingen; Vertrag zwischen der Katholischen Schule St. Ursula und dem Landkreis in den Fassungen von 1973, 1976 und 1977

[2] Kurzmitteilung des Landkreises Göttingen vom 14.3.1997; im Besitz des Verfassers.

[3] Erinnerungsprotokoll eines persönlich geführten Telefongesprächs am 2.9.1997 mit dem Leiter des Schulverwaltungsamtes im Landkreis Eichsfeld.

[4] Der Stadtdirektor: „Vermerk über ein heute in meinem Dienstzimmer geführtes Gespräch vom 19.11.1997“. Im Besitz des Verfassers.

[5] A.a.O., S. 2

[6] A.a.O., S. 3

[7] Göttinger Tageblatt vom 23.2.1998 „Kirche prüft Pläne für Realschulzweig“

[8] Göttinger Tageblatt vom 27.1.1999 „Generalvikariat soll auf neuen Zweig verzichten“

[9] Göttinger Tageblatt vom 3.2.1999 „Kirche will ihre Pläne am Runden Tisch erörtern“

[10] Göttinger Tageblatt vom 4.2.1999 „Diskussion entartet zur Posse“