„Wissen ist Macht – Bildung macht gesellschaftsfähig“ - Teil IV
Nun stand die Frage im Raum: Wie würde das Bundesverfassungsgericht entscheiden? Wir erinnern uns: Der Unterricht an einer katholischen Schule - auch wenn sie von evangelischen oder andersgläubigen Schülerinnen und Schülern oder solchen ohne Konfession besucht wird - müsse durchgängig und in allen Fächern einen auf den katholischen Glauben bezogenen Hintergrund haben, so die Bischöfe.
Einen Hinweis darauf, dass das zu massiven Konsequenzen führen müsste, könnte die Einlassung des damaligen Staatssekretärs im Niedersächsischen Kultusministeriums geben, der sich vor Gericht so äußerte: „Wenn nun der Unterricht in allen Fächern religiös und konfessionell gebunden ist, dann müsste man den Eltern die Möglichkeit geben, eine Freistellung von allen Fächern zu beantragen. Und das ist andererseits wieder unvereinbar mit dem Schulzwang.“[1] Prägnanter kann ein Kommentar zur juristischen Bewertung der bischöflichen Ansichten kaum sein.
Das Gericht entschied so salomonisch wie erwartbar. Das Konkordat war ein Vertrag zwischen dem Deutschen Reich (also der Bundesebene) und dem Vatikan. Durch Grundgesetz in der jungen Bundesrepublik war festgelegt, dass die Schulzuständigkeiten ausschließlich bei den Ländern lagen. Und der Bund hatte keinerlei rechtliche Möglichkeit, sich in die gesetzgeberische Kompetenz der Länder einzumischen bzw. eine gewünschte Gesetzgebung vorzuschreiben und „durchzuregieren“. Insofern griff das Konkordat in dieser Frage überhaupt nicht. Es brauchte fortan Verhandlungen zwischen den Ländern und dem Vatikan. Die begannen dann bald und endeten mit der Einrichtung der Gemeinschaftsschulen in Niedersachsen – bis auf einige Ausnahmen in den wenigen katholisch besiedelten Regionen. Die Sankt-Ursula-Schule in Duderstadt war eine solche Ausnahme.
Da dieses Urteil erst 1957 erging, der Gemeinderat Gieboldehausen aber schon über die Auflösung der evangelischen Schule entschieden hatte, musste es vor Ort weitergehen in den Beratungen. Schon am 2. Februar 1956 traf der Gemeinderatsbeschluss in der Verwaltung des Landkreises und bei der Schulaufsichtsbehörde für den Kreis Duderstadt ein. Der Schulrat entschied schnell und schon am 3. Februar leitete er den Antrag an den Regierungspräsidenten weiter. Von der Kreisverwaltung hingegen konnte man den Eindruck gewinnen, man wolle den Antrag etwas hinauszögern. Die Schulabteilung der Regierungsbehörde bestätigte den Eingang des vom Landkreis Duderstadt weitergeleiteten Antrags erst für den 2. April. Dieser Vorgang wurde durch die „Göttinger Presse“ öffentlich gemacht. [2] Es gab darüber einen kurzen Disput im Kreistag. Der OKD verwies darauf, dass er bei der Regierungsbehörde angefragt habe. Von dort sei aber die Antwort gekommen, man könne die Umsetzung des Antrags, also die Auflösung der evangelischen Schule, bis zum 1. April ohnehin nicht leisten. Der Antrag hätte bis zum 30. September gestellt werden müssen. Dabei wurde aber seitens Bezirksregierung ganz offensichtlich angedeutet, dass man bereit sei, die gemeinsame Schule zum Beginn der 2. Halbjahres einzurichten – also zum 1.10.56. Das war aber nun nicht mehr möglich. Die Zusammenlegung erfolgte zum 1.4.1957.
Hierdurch stieg nun der Druck auf bauliche Maßnahmen für den Aufbauzug enorm. Nicht nur, dass jetzt eine Schule in die andere integriert werden musste. Vielmehr galt es auch noch, der in den Nachkriegsjahren deutlich angestiegenen Zahl von Kindern einen schulischen Raum zu schaffen. Gab es im Regierungsbezirk Hildesheim 15 Kinder auf 1.000 Erwachsene, so lag die Zahl der Kinder im Landkreis Duderstadt bei 27 auf 1.000 Erwachsene.[3]
Nun ging es schnell: Zunächst entzog die Gemeinde dem Architekten Borchardt, Duderstadt, der die Vorverhandlungen geführt hatte, in der Ratssitzung am 20.10.1956 den Auftrag, worüber der sich bitterlich beim Regierungspräsidenten, beim Staatshochbauamt Osterode, beim Oberkreisdirektor und beim Gieboldehäuser Bürgermeister beschwerte. Ohne Erfolg. Den Auftrag bekam Architekt Engelhardt aus Nesselröden. Kurz vor dem Weihnachtsfest trafen sich einige Ratsmitglieder, der Bürgermeister, einige Lehrer und der Architekt, um weitere Dinge hinsichtlich der benötigten Kapazitäten zu besprechen. Wie im „Göttinger Tageblatt“ vom 17.12.1956 dann nachzulesen war, erfuhren die Politiker dabei u. a., dass schon jetzt an vier Nachmittagen in der Woche Schulunterricht bis 16.45 Uhr erteilt würde, obwohl wegen Lehrermangel 60 Stunden wöchentlich ausfielen. Das sei aber gerechnet auf die momentan vorhandenen 11 Klassen. Ab dem 1. April 1957 rechne er- Rektor Dölle - jedoch mit 13 Klassen, was in der Praxis dann Unterricht bis 19 Uhr bedeuten würde. Das wäre jedoch kaum noch hinnehmbar.
Diese Informationen reichten aus, um nunmehr schnellstens tätig zu werden. Schon wenige Wochen später schrieb der Gemeindedirektor unter dem Datum des 26. Februar 1957 an den Oberkreisdirektor Dr. Gleitze, dass die Vorbereitungen und Planungen hinsichtlich der Schulerweiterung abgeschlossen seien. Der Gemeinderat wünsche einen Schulerweiterungsbau. Es werde ein Gebäude für den Aufbauzug – die künftige Mittelschule – erstellt und außerdem solle die Toilettenanlage der Volksschule bei der Gelegenheit erneuert werden. Als besonderes Novum war erstmals der Einbau einer Warmwasserheizungsanlage vorgesehen. Den Bau einer Turnhalle hatte man schon im Auge, er sollte jedoch in einem zweiten Bauabschnitt erfolgen. Der Baubeginn wurde auf das Frühjahr 1957 gelegt, das Bauende war für September 1958 geplant. Die Baukosten betrugen nach der Vorplanung des Architekten Engelhardt 582.000 DM. [4]
Es begann eine rege Bautätigkeit bei laufendem Schulbetrieb. Der Termin des Bauendes war ehrgeizig, konnte jedoch in etwa zeitnah eingehalten werden. Schon am 15.11.1958 konnte sich der Gemeinderat auf einen Termin zur Einweihung des neuen Aufbauzuges festlegen: Die festliche Eröffnungsfeier sollte am 5. Dezember 1958 um 10.30 Uhr im neu eingerichteten Musikraum der Schule stattfinden. Auch über die Einladungsliste hatte man sich schnell verständigt: MdB Hackethal, MdL Beckmann, Landrat, OKD, Schulrat Kreutzkamp, Fraktionsvorsitzende im Kreistag Duderstadt, Medizinalrat Heckhausen, Geistlichkeit, Architekt Engelhardt.
Und schon am 6. Dezember berichtete die einer Gemeinschaftsschule gegenüber so kritische „Südhannoversche Volkszeitung“ über die gelungene Eröffnungsveranstaltung. Bürgermeister Dr. Emmerich übergab den Schlüssel an Rektor Adalbert Dölle, Frau Helga Grob[5] spielte am neu erstandenen Flügel das Adagio aus Beethovens „Pathetique“ - kleiner ging es wohl nicht…. Aber: „Pathetique“ bedeutet „Leidenschaft, leidenschaftlich“. Vielleicht wollte Frau Grob damit auch einen versöhnlichen Schlussakkord unter die zu Beginn dieser schulpolitischen Entwicklung äußerst leidenschaftliche, somit pathetische Debatte setzen. Ich traue ihr aus meinem persönlichen Erleben so viel Sensibilität zu… Die Veranstaltung selbst stand unter dem Motto: „Wissen ist Macht – Bildung macht gesellschaftsfähig“. Der erste Teil des Mottos ist übrigens ein Zitat von Francis Bacon, einem englischen Vertreter der frühen Aufklärung. Auch dies sicherlich ein deutliches Statement von politisch und konfessionell emanzipierten – oder um das Wort ein letztes Mal aufzugreifen – „dissidenten“ Lehrerinnen und Lehrern.
Bleiben nur noch zwei Fakten nachzutragen:
Am 25.11.1959 erkennt das Niedersächsische Kultusministerium durch Schreiben an den Regierungspräsidenten in Hildesheim den Aufbauzug (Mittelschule in verkürzter Form) an der Volksschule Gieboldehausen mit Wirkung zum 1.12. 1959 als vollausgestalteten Aufbauzug an. Die Schule darf das Abschlusszeugnis der Mittelschule ausstellen. In den Jahren 1958 (28) und 1959 (34) wurden erstmals Abschlusszeugnisse erteilt.
Und am 20. Mai 1960 wurde der Anbau abgerechnet. Der OKD berichtete an den Regierungspräsidenten, dass der Bau mit 582.000 DM geplant wurde, die endgültigen Baukosten beliefen sich auf 469.000 DM (!).
PS: Wer sich mit der Materie näher beschäftigen möchte, dem empfehle ich das Kreisarchiv in Osterode.
[1] Unterlagen zum Feststellungsverfahren in B 122/1280-1282, Urteil vom 26. März 1957 in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Bd. 6, S. 309-367
[2] Kreisarchiv LK GÖ, A 40, Nr. 245
[3] a. a. O., dort: Göttinger Tageblatt vom 4. Juli 1956
[4] a. a. O.
[5] Helga Grob (diese persönliche Bemerkung über meine ehemalige Klassenlehrerin in den vier Jahren des Aufbauzuges sei mir - Reinhard Dierkes - gestattet) war eine herausragende Musiklehrerin, die wenig später (1966/67?) ihrem Mann Hans Grob in die Schweiz folgte, wo er als Oboist in einem Sinfonieorchester engagiert war.