Die Entwicklung zur Orientierungsstufe gestaltete sich etwas schwieriger. Die konservativ-katholisch inspirierte eichsfeldische Schulpolitik lässt sich von Beobachtern von außen nur als eine Politik mit Bremserfunktion einordnen und sie entwickelte vielerlei Ideen, um den bildungspolitischen Fortschritt zu verlangsamen oder gar aufzuhalten.

Die vor Ort präferierte überkommene Dreigliedrigkeit des Bildungssystems – Volksschule, Realschule und Gymnasium – geriet überall immer stärker in die Diskussion und sah sich vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Anforderungen und pädagogisch-psychologischer Erkenntnisse starker Kritik ausgesetzt. Stichworte dazu waren die Begabtenförderung und die Prognoseunsicherheiten nach der Klasse 4 der Grundschule. Auf Landesebene hatten sich CDU und SPD auf einen Kompromiss geeinigt: Die SPD tendierte zur Gesamtschule ab Klasse 5, die CDU wollte dies verhindern und am dreigliedrigen Schulsystem festhalten. Der Kompromiss bestand darin, dass man dich darauf verständigte, die Klassen 5 und 6 zur Orientierungsstufe zusammenzuführen und danach dann die Dreigliedrigkeit anzubieten. In Niedersachsen wurde die Orientierungsstufe ab 1972 an einigen Schulen eingerichtet, ab dem Schuljahr 1981/82 war sie dann landesweit verpflichtend. In Gieboldehausen startete die Orientierungsstufe mit dem Schuljahr 1979/1980. Sie war von Beginn an im Eichsfeld umstritten. Und genau diese vor Ort stets befeuerte elterliche Unsicherheit hat die katholische Privatschule St. Ursula in Duderstadt zur größten Orientierungsstufe im Landkreis werden lassen, weil die Flüsterpropaganda unter Eltern suggerierte, hier werde nach wie vor "vorgruppiert", also in der klassischen Aufteilung der Dreigliedrigkeit unterrichtet.

In einem Brief vom 4. März 1974, der an den Regierungspräsidenten in Hildesheim gerichtet war, lud die mittlerweile gegründete Samtgemeinde Gieboldehausen zu einer Besprechung ein über „aktuelle Schulprobleme im Bereich der Samtgemeinde Gieboldehausen, hier: Einführung der Orientierungsstufe“.[1] Sie verweist in diesem Brief darauf, dass bei „Einführung der Orientierungsstufe zum Beginn des Schuljahres 1975/76 mit folgenden Zahlen gerechnet werden müsse: für die Klassen 5 (321 erwartete Schülerinnen und Schüler) werden benötigt 11 Klassenräume, für das Schuljahr 1976/77 (erwartete 269 Schülerinnen und Schüler) würden für die Klassen 5 weitere 9 Klassen benötigt. Vorhanden seien lediglich je 5 Klassenräume für die Jahrgänge 75/76 und 76/77. Das hieß im Klartext, dass pro Jahrgang 5 bzw. 6 Klassenräume fehlen würden.[2] Es musste also erneut gebaut werden.

Am 29. April 1974 traf sich der Samtgemeinderat, um eine möglichst gemeinsame Linie für das Gespräch mit dem Regierungspräsidenten zu finden. Für die CDU-Fraktion monierte deren Fraktionsvorsitzender Carl Strüber, der Kenntnisstand reiche derzeit noch nicht für eine abschließende Beurteilung aus. Man habe zwar keine Bedenken gegen die Einführung der Orientierungsstufe, aber hinsichtlich eines SEK-1-Zentrums halte man es für dringend geboten, vorab die betroffenen Eltern zu fragen und deren Meinung kennen zu lernen. Die vorhandenen Schulraumkapazitäten müssten auch weiterhin genutzt werden. Für die SPD-Fraktion signalisierte deren Fraktionsvorsitzender Klaus Malzahn, ein klares „Ja“ zur Einrichtung der Orientierungsstufe zu einem Zeitpunkt gemeinsam mit Duderstadt, allerdings verwies auch er darauf, dass man die Elternschaft in dieser Frage auf jeden Fall mitnehmen müsse. CDU-Ratsherr Hermann Adam deutete noch einen weiteren finanziellen Aspekt an. Er verwies darauf, dass das SEK-1-Zentrum [3] in der Trägerschaft des Landkreises Göttingen sei. Daher rechne er mit einer höheren Kreisumlage und damit einer höheren finanziellen Belastung der Samtgemeinde und deren Mitgliedsgemeinden. [4]

Die Äußerungen vom CDU-Fraktionsvorsitzenden Strüber müssen insofern noch eingeordnet werden, als er hier klar erkennbar die Position aus Bilshausen, wohl aber auch die aus Rhumspringe einbrachte. Gegen die Einführung der Orientierungsstufe konnte man nicht auftreten. Das war Politik der Landes-CDU. In Bezug auf das SEK-1-Zentrum gab es vor Ort massiven Widerstand, weil die Sorge bestand, dass in der Folge die Volksschulen - z. B. die in Bilshausen, die selbst ein Fördersystem in den Klassen 5 und 6 eingerichtet hatte und sich Chancen auf eine Weiterentwicklung zu einer echten Mittelpunktschule nicht verbauen lassen wollte - erwartbar zur Diskussion, soll heißen: zur Schließung anstehen könnten. Daher auch die Verweise auf die Elternschaft.

Am 30.4.1974 traf man sich dann zum Schulbautermin. Teilnehmer: Regierungspräsidium Hildesheim, Staatshochbauamt Osterode, Samtgemeinde Gieboldehausen, CDU-Fraktionsvorsitzender Strüber, SPD-Fraktionsvorsitzender Malzahn, Schulrat Menzel, Rektoren Dölle und Gerlach und Landkreisvertreter. Im Vermerk vom 2. Mai 1974 ist zu diesem Treffen festgehalten,

  1. „Die anwesenden Vertreter der Samtgemeinde erheben keinen Widerspruch gegen die von der Regierung vorgesehenen schulischen Standortbestimmungen und Einzugsbereiche.
  2. Zum anderen keinen Widerspruch dagegen, die Sekundarstufe I in Gieboldehausen mit einem vollen schulischen Angebot auszustatten.
  3. Sie werden die Raumplanung und Raumausstattung von diesen Entscheidungen bestimmen lassen.
  4. Sie stellen fest, dass die in der Stadt Duderstadt voraussichtlich zum 1.8.1974 einzurichtende Privatschule keine Beeinflussung der Schulentwicklung in der Samtgemeinde Gieboldehausen hinsichtlich der Schülerzahlen haben wird.
  5. Die mögliche Einbeziehung von Ebergötzen und Waake in den schulischen Bereich der Samtgemeinde ist für die Vertreter Gieboldehausens nicht von Belang.“ [5]

Bei diesem Termin erklärte Strüber, „dass die Gremien des Samtgemeinderates sich mit dieser Schulentwicklungsplanung nicht einverstanden erklären. Er wies auf die Beibehaltung bestehender Schulen hin; auch in volkswirtschaftlichem Sinne seien solche erheblichen Investitionen nicht zu vertreten“. [6] Er plädierte erneut dafür, dass die Schüler nach Durchlaufen der Orientierungsstufe wieder an die Volksschulen in den Dörfern kommen sollten, wenn für die Schülerinnen und Schüler nicht der Besuch des Gymnasiums in Duderstadt oder der Besuch der Realschule in Gieboldehausen gewählt wurde.

Das Vorhaben der Landesregierung und des Regierungspräsidiums schlug vor Ort hohe Wellen. Nicht zuletzt die Gemeinde Bilshausen bangte mit guten Gründen um ihre Volksschule, deren Aufhebung nach Einführung der SEK-I in Gieboldehausen befürchtet werden musste. Deswegen stellten Gemeinde und Schulelternrat gemeinsam eine Elternbefragung auf die Beine, um „ihre“ Schule zu retten. In einer Petition an den Regierungspräsidenten in Hildesheim – durchgeführt in Bodensee, Krebeck, Renshausen und Bilshausen und unterschrieben von Georg Engelhardt und Inge Richter - äußerten sie unter dem Datum des 24.9.1974 nicht das geringste Verständnis für eine Neuordnung. Sie verwiesen auf 530 Schülerinnen und Schüler, die von 23 Lehrkräften unterrichtet werden. Und die geforderte Mehrzügigkeit in allen Jahrgängen konnte auch in Bilshausen nachgewiesen werden. Nun muss für die Einordnung der Schülerzahlen darauf hingewiesen werden, dass die Zahl von 530 Schülerinnen und Schülern auch die Grundschülerinnen und Grundschüler umfasste, ebenso die in Bilshausen unterrichteten Volksschüler aus Krebeck, Renshausen und Bodensee. Gerade der letzte Hinweis relativiert allerdings auch gleich die Argumentation des Bilshäuser Schulelternrats, wenn er als großen Nachteil beschreibt, dass „die Fahrt in überfüllten Bussen, die die Schüler über Gebühr physisch in Anspruch“ [7] nimmt. Ferner verweisen die Elternvertreter auf den hohen zeitlichen Aufwand, die Gefahrenquellen an Bushaltestellen sowie einen hohen finanziellen Aufwand für die Eltern. Sie fordern ganz klar formuliert „die Erhaltung der Grund- und Hauptschule in Bilshausen und dass die Einführung der Orientierungsstufe in Gieboldehausen erst erfolgt, wenn alle Voraussetzungen dafür optimal sind.“ [8] Die Einrichtung noch für das Jahr 1976 hielten sie jedenfalls für viel zu früh.

Die Antwort aus dem Regierungspräsidium kam am 15. November 1974 und fiel kurz und klar aus. Die Regierung verwies darauf, es könne, „soweit es die Hauptschule betrifft, nur unter Berücksichtigung der Schülerrichtzahlen davon ausgegangen werden, dass spätestens 1979 eine Hauptschule Bilshausen nicht mehr gehalten werden kann, weil die Schülerzahlen eine Zweizügigkeit nicht gewährleisten.“ [9]

Ganz so schnell sollte es dann jedoch auch nicht gehen. Durch verschiedene Kunstgriffe wie die Bildung kleinerer Klassen oder gar Kombiklassen (!) gelang es, die Existenz der Hauptschule noch um 20 Jahre hinauszuzögern. Am Ende stimmten die Eltern mit den Füßen ab. Im Juni 2009 musste die Schule dann ihre Pforten schließen. Ab dem Zeitpunkt existierte sie noch als Grundschule.

Die Orientierungsstufe begann im Sommer 1979 mit ihrer durchaus erfolgreichen Arbeit. Sie wurde allerdings schon 2004 wieder abgeschafft. Politisch aus sehr unterschiedlichen Gründen, in der Folge aber mit einem eindeutigen Ergebnis. Das wird im Teil VII zu beschreiben sein.

[1] Kreisarchiv Landkreis Göttingen, LK-A40-324

[2] A.a.O.

[3] Die Formel SEK-1-Zentrum wird in der Diskussion nie inhaltlich unterfüttert, so dass unklar bleibt, ob es sich vor Ort um einen Zusammenschluss von Haupt- und Realschule oder aber die Einrichtung einer Gesamtschule handeln sollte. Erwartbar war in Gieboldehausen allenfalls die erste Form, heute als „Oberschule“ im Schulsystem etabliert. Anderenorts nahm man die Reform zum Anlass, eine Gesamtschule einzuführen.

[4] Vgl. „Südhannoversche Volkszeitung“ vom 2.5.1974

[5] Kreisarchiv Göttingen, LK-A40-324

[6] A.a.O.