Wie schon beschrieben, hatte die Landesregierung im September 1954 die Diskussion über das neue Schulgesetz durch Landtagsentscheidung abgeschlossen. Dadurch kam auch Bewegung in die Schulpolitik in Gieboldehausen.

Während des Gesetzgebungsverfahrens und nach der Entscheidung kam es in den katholischen Regionen des Landes und in Hannover zu heftigen Protesten der katholischen Organisationen mit mehreren zehntausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern bis hin zu Landtagseingaben beispielsweise von katholischen Schützenbruderschaften. Allein in Hannover waren 50.000 Katholiken auf der Straße versammelt, um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen. Die Bischöfe und die katholischen Laienorganisationen gingen davon aus, dass die Bestimmungen des Schulgesetzes nicht mit dem Konkordat von 1933 (!) vereinbar waren und somit gegen den Vertrag verstießen. Die rechtliche Dimension war die eine Frontlinie, der Protest vieler katholischer Organisationen sollte den breiten, öffentlich wahrnehmbaren Widerstand dokumentieren. Dabei schreckte man auch nicht vor dem Begriff des „Kulturkampfes“ zurück, der aus der Bismarckzeit herübergekommen war und für eine gewisse Mobilisierung sorgen konnte. Diesen Terminus verwendete die eichsfeldische katholische Kirche sogar noch als Kampfbegriff gegen den Landkreis Göttingen, als die Orientierungsstufe zu Beginn der 2000-er Jahre abgeschafft und die katholische Konkordatsschule Sankt-Ursula in Duderstadt von einer Orientierungsstufe mit Hauptschule in eine Integrierte Gesamtschule umgewandelt wurde. [1] Jedenfalls erhoffte man sich durch diese Begrifflichkeit eine zusätzliche Wirkung.

Im Februar 1954 hatten die niedersächsischen Bischöfe eine Denkschrift veröffentlicht mit dem Titel „Frieden im Volke aufs Höchste gefährdet“. Die katholischen Hirten sprachen in der öffentlichen Diskussion ohne Hemmungen von „proprotestantischer Gesetzgebung, von „Zwangsgemeinschaftsschulen“, schwerer Gewissensbelastung und von der intellektuellen Einstellung „dissidenter (!) Lehrer, die Toleranz nicht pflegen dürften.“ [2] Zum letzten Begriff gab es einen scharfen Schriftwechsel, in dem MP Kopf (SPD) diese Wortwahl scharf zurückwies und um Beispiele bat, ansonsten möge der Bischof dazu schweigen.[3] Das hinderte andere Beteiligte, beispielsweise die schon zitierte „Südhannoversche Volkszeitung“, indes nicht an der verbal übergriffigen Stimmungsmache. Sie machten munter weiter und befeuerten den „Kulturkampf“. Der Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens verstieg sich in seinem „Hirtenwort zum Schulkampf“ vom Oktober 1954 sogar zu dem Appell, man möge bei der nächsten Wahl nur Volksvertreter wählen, die Schulpolitik nach Gottes Willen machen und das Schulgesetz wieder abschaffen. Was ein solcher Aufruf bewirken soll, wenn 77 % der Niedersachsen evangelisch sind und die evangelische Landeskirche dem Gesetz schon lange zugestimmt hatte, das bleibt wohl Machens bischöfliches Geheimnis… Das Gegenargument der Befürworter der christlichen Gemeinschaftsschule, es gebe doch den katholischen Religionsunterricht, in dem genau die Inhalte vermittelt würden, auf welche die Bischöfe Wert legen, akzeptierten sie nicht. Schließlich müsse nach ihren Vorstellungen grundsätzlich in allen Unterrichtsfächern der katholische Glaube der durchgängige Leitfaden der Schulpraxis sein, und katholische Erziehung müsse daher im kompletten Fächerkanon implementiert werden.

Im Jahre 1955 strengte dann die Bundesregierung auf Druck des katholischen Nuntius Bafile und der katholischen Bischöfe eine Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen das Land Niedersachsen an mit dem Ziel, das Karlsruher Gericht möge feststellen, dass die niedersächsische Gesetzgebung gegen das Konkordat verstoße und damit verfassungswidrig sei. Als Vertreter der Bundesregierung fungierte Staatssekretär Dr. Globke. [4]

Genau hinter dieser Klage versteckten sich die sechs Ratsherren, die sich in der entscheidenden Sitzung des Gemeinderates Gieboldehausen nicht in der Lage sahen, für eine gemeinsame Schule für alle Gieboldehäuser Kinder zu stimmen. Dabei war ihnen bekannt, dass die evangelische Schule schon allein ihrer Größe wegen nicht überlebensfähig gewesen wäre und nach Schulgesetz eigentlich hätte aufgelöst werden müssen. Die Kampagne der Bischöfe hatte verfangen, sie verpflichtete auch die daran orientierten Gemeinderatsmitglieder vor Ort zur Ablehnung des Schulgesetzes. Es wäre sicher nicht richtig, wenn man den Männern – es waren ja ausschließlich Männer - eine grundsätzliche Ablehnung der christlichen Gemeinschaftsschule und eine damit verbundene Missachtung der Interessen der evangelischen Schülerinnen und Schüler unterstellen würde. Die Problematik muss ihnen entgegen der Vermutung des Berichterstatters der „Südhannoverschen Volkszeitung“ bekannt gewesen sein. Sie hatten allerdings auch nicht den Mut, sich zugunsten einer für die Zukunft pädagogisch gut aufgestellten Gemeinschaftsschule gegen die ausschließlich aus konfessioneller Sicht argumentierende eigene katholische Kirchengemeinde und ihren Pfarrer zu stellen. Wie sich diese Position in Gieboldehausen ausdrückte, soll hier durch ein ausführliches Zitat eines Leserbriefes an die „Südhannoversche Volkszeitung“ - veröffentlicht am 28. Januar 1956 - dokumentiert werden:

„Wo bleibt das Elternrecht? Zur Schulfrage in Gieboldehausen

Dass über den am 21. Januar 1956 gefassten, ungeheuerlichen Beschluss des Gemeinderates jeder wahrhaft katholisch empfindende Mensch, insbesondere viele katholische Väter und Mütter von Gieboldehausen zutiefst erschüttert sind, leuchtet ohne weiteres ein. Es kann gar nicht scharf genug gebrandmarkt werden, dass, während den anderen Landgemeinden des Kreises das Gesetz die katholische Schule genommen hat, hier in Gieboldehausen Katholiken sich dazu hergeben, die katholische Schule, die ihnen das Gesetz gelassen hat, aufzuheben. Unter den acht Abgeordneten, die für die Einführung der Gemeinschaftsschule stimmten, waren sieben Katholiken, von denen man normalerweise hätte annehmen müssen, dass sie sich mit ganzer Kraft für die Beibehaltung der katholischen Schule eingesetzt hätten. Damit haben diese Katholiken sich den traurigen Ruhm erworben, Totengräber der katholischen Schule zu sein…..

Bei den letzten Gemeindewahlen hat die Bevölkerung von Gieboldehausen, die zu 75 % katholisch ist, 4 SPD-, 3 FDP-, 2 BHE- und nur 6 CDU-Abgeordnete in das Gemeindeparlament gewählt. Angesichts dieser Zusammensetzung des Gemeinderates wird es deutlich, dass die Hauptschuld diejenigen katholischen Wähler trifft, die bei Abgabe ihrer Stimme sich nicht von ihrem Gewissen haben leiten lassen, sondern ihre Stimme Leuten gegeben haben, denen in jedem Falle die Richtlinien ihrer Partei über alles gehen, die in Befolgung dieser Richtlinien sogar die katholische Schule preisgeben.….

Es wäre gut, wenn alle katholischen Wähler Gieboldehausens in einer heilsamen Gewissenserforschung sich diese Dinge einmal durch den Kopf gehen lassen würden…..“[5]

Der Schreiber dieses Briefes blieb anonym, die Zeitung kannte den Namen. Ist es angesichts der Wortwahl und des Duktus des Briefes – einem Hirtenwort der damaligen Zeit nicht unähnlich – völlig ausgeschlossen, dass der Brief von der Spitze der katholischen Kirchengemeinde gekommen ist? Also ein gemeinsames Vorgehen von Kirchengemeinde und Zeitung? Ein letztes Machtwort von der Kanzel?


[1] Mittlerweile ist die Ursula-Schule mangels Nachfrage geschlossen

[2] A. Peycke, Ökumene in Niedersachsen 1945 – 1975 – Das Verhältnis zwischen evangelisch-lutherischen Landeskirchen und römisch-katholischen Bistümern, s. 233

[3] A. a. O., S. 234

[4] Dr. Globke war einer der Kommentatoren der „Nürnberger Rassegesetze“ von 1938

[5] „Südhannoversche Volkszeitung“ vom 28.1.1956, eingesehen im Kreisarchiv LK DUD 1069