Rückschritt als Fortschritt?  Vom Versuch, die pädagogisch überholte Dreigliedrigkeit als neuen bildungspolitischen Ansatz in der Schulpolitik zu verkaufen...

Die Landesregierung diskutierte seit 2001 über neue Strukturen für die Klassen 5 und 6 und entschloss sich, die Orientierungsstufe in der bisherigen Form  zum 1.8.2004 wieder abzuschaffen. Konservative Bildungspolitiker hatten das schon immer gefordert, die eher links orientierte Bildungspolitik, wie sie von der SPD und den Grünen vertreten wurde,  hatte die Hoffnung, eine integrative Orientierungsstufe würde sich im Laufe der Zeit in eine integrative Sekundarstufe I auflösen. Diese Erwartung stellte sich als politisch nicht durchsetzbar heraus. Die nun angestrebte Lösung, statt einer relativ eigenständigen Organisationsform die Klassen 5 und 6  jetzt direkt an die Haupt-, die Realschule oder das Gymnasium  anzudocken, war von Beginn an eine reaktive und halbherzige Lösung des noch amtierenden Ministerpräsidenten Gabriel (SPD) und den konservativen Bildungspolitikern ohnehin ein Dorn im Auge. Ab 2003 übernahm Christian Wulf (CDU) das Amt als Ministerpräsident von Niedersachsen. 

Das Ergebnis der damaligen Landtagswahl ließ bei CDU-Bildungspolitikern auch vor Ort große Hoffnungen keimen, dass man das „Rad der (Bildungs-)Geschichte“ wieder zurückdrehen könnte und sie gingen die Umsetzung konservativer Bildungspolitik – konkret: die Wiederherstellung des dreigliedrigen Schulsystems - sofort an. Sozialdemokraten vor Ort sahen das völlig anders und waren hinsichtlich der aus der Neuausrichtung resultierenden Entwicklung absolut sicher: „Die von Koch… verteidigte Dreigliedrigkeit werde dort landen, wo sie hingehöre: im bildungspolitischen Museum für historische Schulstrukturen…“ und habe „allenfalls bildungspolitischen Unterhaltungswert.“ [1] 

Dreigliedrigkeit im Bildungssystem und erneut – vor allem auch im Eichsfeld – die landesweite Weiterentwicklung katholischer Schulen sollten nun in den Fokus der Diskussion rücken. Lothar Koch, Landtagsabgeordneter der CDU, Mitglied des Kultusausschusses in Hannover und eichsfeldischer Schulpolitiker,  sah seine Stunde auch hinsichtlich der Erweiterung des kirchlichen Schulangebots gekommen. „Für den Wunsch der St. Ursula-Schule, sowohl ihr neues Realschul- als auch das Gymnasialangebot zweizügig zu fahren, würden pädagogische Gründe geltend gemacht, für die auch das Eichsfeld-Gymnasium Verständnis signalisiert habe, sagte Landtagsabgeordneter Lothar Koch auf Tageblatt-Nachfrage….Koch hält eine Lösung für die St. Ursula-Schule mit je zwei Hauptschul- und Gymnasialzügen sowie einem Realschulzweig für am ehesten wahrscheinlich. Er wolle zusammen mit Landrat Reinhard Schermann …. am Freitag dazu beitragen, dass eine KIärung erfolgt, in der die regionalen Belange zum Tragen kommen.“ [2] 

Das geschah dann auch in den Gesprächen im Kultusministerium am Freitag, dem 12.12.2003. Das Gesprächsergebnis mündete  in einem „Antrag des Bischöflichen Generalvikariats auf Errichtung einer einzügigen Realschule und eines zweizügigen SEK-I-Gymnasiums an der St Ursula-Schule Duderstadt“ an den Kreistag in Göttingen. [3] Eine in diesem Zusammenhang durchgeführte Nachfrage auf der Grundlage der Elternentscheidungen seitens des öffentlichen Schulträgers ergab folgende Elternwünsche für die verschiedenen Zweige einer „neuen“ St. Ursula-Schule für die Klassen 5, 6 und 7: (in Klammern die Zahlen für Sielmann-RS und EGD)

St. Ursula-Schule für den Realschulzweig: 30 Ss / 27 SS / 21 Ss   (104/113/115)

St. Ursula-Schule SEK-I-Gymnasium: 10 Ss / 22 Ss / 6 Ss  (133/132/133) [4]

Die Diskussionen im zuständigen Schulausschuss und in den Fraktionen des Kreistages begannen. Zwar lautete der Beschlussvorschlag für den Kreistag: „Das Einvernehmen wird hergestellt.“ Der Landrat selber hatte allerdings in seiner Vorlage darauf verwiesen, dass das „Elterninteresse an der Errichtung eines SEK. I-Gymnasiums sehr gering ist.“ [5]  Gleichwohl war nicht absehbar, wie sich das weitere Anmeldeverhalten entwickeln könnte, wenn die Schule beispielsweise Realschülerinnen und Realschüler aus dem öffentlichen System abziehen und in die nicht nachgefragten Gymnasialzüge einbringen würde. Unter dem Strich hätte das eine Verschiebung bis zu drei Klassen bedeuten können.

Die St. Ursula-Schule war sich ihrer Sache absolut sicher und ging wohl davon aus, dass der Kreistag auf der Grundlage der Gespräche des kirchlichen Trägers mit dem Land und in der Stadt Duderstadt sowie im Vertrauen auf die Durchsetzungskraft des örtlichen Landtagsabgeordneten die Angelegenheit zügig und mit sicherer Mehrheit abnicken würde.  Schon lange bevor überhaupt eine Entscheidung im Kreistag auch nur angedacht war, hatte die Schule im November 2023 ein Faltblatt verteilt, auf dem bereits alle drei Schulformen angeboten wurden und sie lud für den 19. und 21. Januar 2004 zu Informationsabenden ein - vermutlich nach Absprache mit der Stadt Duderstadt. Das war eine glasklare Ansage, die alle schulpolitischen Gegenkräfte stark mobilisieren musste, die sich mit der Restauration der Dreigliedrigkeit und der möglichen Schwächung des öffentlichen Systems nicht anfreunden wollten. 

 

Kreistagssitzung in Duderstadt mit Schülerdemo….

Der Kreistag befasste sich mit der Angelegenheit am 3. März 2004 – auf Wunsch der CDU-Fraktion und des Landrats im Duderstädter Rathaus. Vor dem Rathaus gab es eine Demonstration von OS- und Hauptschülerinnen und -schülern der St. Ursula-Schule, die trotz nicht vorhandener Nachfrage (s. o.) mit Nachdruck auf ihren Wunsch nach einem kirchlichen Gymnasium hinwiesen – so sollte wohl spürbarer Druck auf die Kreistagsabgeordneten ausgeübt werden. Nachdem die Befürworter des katholischen Gymnasiums während der Sitzung die eigenen Reihen und die der ablehnenden Kreistagsabgeordneten durchgezählt hatten (der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag Thomas Oppermann war erst sehr verspätet zur Sitzung erschienen und hatte die bis zu dem Zeitpunkt vorhandene Mehrheit der Befürworter neutralisiert), beantragte Lothar Koch (CDU) unter Hinweis auf angeblich fehlende Durchführungsbestimmungen (am Tag zuvor war im Kreisauschuss noch nicht von fehlenden Bestimmungen die Rede...) und eine anstehende erneute Unterschriftensammlung der Schule eine Verschiebung der Abstimmung im Kreistag auf den Mai. Man wollte wohl im eigenen Rathaus in Duderstadt keine Abstimmungsniederlage riskieren und schickte stattdessen die Vertreter der Schule nach vorn, die sich zeitnah mit einer „Sachinformation zur derzeitigen politischen Diskussion um die künftige Struktur der St. Ursula-Schule in Duderstadt“ [6] an alle Seelsorgeeinheiten im Untereichsfeld wendeten und um Unterschriften – streng genommen: von Unbeteiligten – für die Schule baten, frei nach dem Motto: "Ein Kanzelwort zur rechten Zeit hilft uns jetzt im Bildungsstreit."  Die St.-Ursula-Schule sei ein wichtiges Element in der pastoralen Arbeit des Eichsfeldes. „Sie wird von den Gemeinden und ihren Mitgliedern getragen... Die Eltern wollen für ihre Kinder eine wertorientierte Erziehung und Bildung.“ [7] Auf diese Weise kamen relativ schnell 3650 Unterschriften zusammen. Die Sachinformation enthielt – kurz gefasst – die Erwartung des kirchlichen Trägers, dass langfristig der Bestand einer katholischen Schule im Eichsfeld mit einem attraktiven Angebot gesichert würde. Als Hauptschule allein würde die Schule nicht überlebensfähig sein. „Die St. Ursula-Schule in der Trägerschaft unseres Bistums würde in einigen Jahren nicht mehr existieren.“ [8] 

Die Schulen des öffentlichen Bildungssystem – das Gymnasium, die beiden Realschulen und Hauptschulen in Gieboldehausen und Duderstadt – waren bei dieser Diskussion gewissermaßen „außen vor“; sie waren zum Zuschauen verdonnert und versuchten, ihren Einfluss über die Kreistagsfraktionen geltend zu machen, die sie bei ihren Bemühungen um ein starkes staatliches Schulsystem unterstützten. Eine öffentliche inhaltliche Debatte mieden sie dabei, allenfalls die Vertreter des Gymnasiums merkten an, dass man ihre Schule bitte nicht auseinanderreißen möge. Ein Argument für den eigenen Arbeitsplatz und die Standortfrage – weiter nichts. Das Eichsfeld-Gymnasium hatte ja ohnehin  "Verständnis"  für die Wünsche des Bistums geäußert.... 

Zwischenzeitlich hatte sich auf Landesebene und im Hinblick auf die erwartete neu strukturierte Schullandschaft auch der Landesrechnungshof beim Landesgesetzgeber gemeldet und machte ein weiteres Debattenfeld auf. Er „vermisste…eine spezifizierte Darlegung der Kostenfolgen… und zum anderen einen ausreichenden Grund für die Einbeziehung neuer Schulen in die vorteilhafteren Finanzhilferegelungen für die überkommenen Konkordatsschulen…. (Er) wies außerdem auf mögliche Auswirkungen der Errichtung neuer Gymnasien auf das öffentliche Schulwesen hin; dadurch könnten mögliche unwirtschaftliche örtliche Schulstrukturen entstehen, deren Finanzierung – jedenfalls bezüglich der Personalkosten – auch das Land treffen könnten.“ [9] Die SPD-Landtagsfraktion teilte das Argument, die CDU-Fraktion hingegen widersprach den Bedenken des Landesrechnungshofs. 

 

„Achtung! Achtung!  - Schulfrieden oder Kulturkampf?“

Bevor es nun in die entscheidende Abstimmung im Kreistag ging, zog vermutlich ein früherer Schulleiter der St. Ursula-Schule noch einmal alle Register und griff tief in die historische Klamottenkiste. Er stellte in einem offenen Brief die Frage: „Achtung! Achtung! Schulfrieden oder Kulturkampf?“…“Wünscht man sich die Zeiten des Kulturkampfes zurück???...“ [10]  Rhetorisch sicher daneben, der ausgerufene Kulturkampf, von dem man sich scheinbar eine starke Mobilisierung erhoffte,  riss selbst in den katholischen Kreisen niemanden mehr vom Hocker. Bismarck war lange tot, der neue Kulturkampf (der ja ernsthaft keiner war) lange entschieden...  Schon aus damaliger Sicht konnte also die etwas provokativ in den Raum gestellte Frage „Darf solch ein politisches Handeln einen Eichsfelder gleichgültig lassen??“ [11]  sicher mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden. Erinnerungen an die Auflösung der katholischen Bekenntnisschule im Flecken Gieboldehausen in den 1950-er Jahren werden geweckt.... (vgl. Teil II)

Die Kreistagssitzung am 12. Mai 2004 in Göttingen sollte die Entscheidung bringen. Während der Aussprache zu diesem Punkt wurden noch einmal alle Argumente gewichtet, hinterfragt und in die Zukunft gewendet. Für die CDU sprachen die Abgeordneten Lothar Koch (Duderstadt) und Dr. Harald Noack (Göttingen). Sie verwiesen auf die schon genannten 3650 Stimmen aus den Pfarrgemeinden, lobten die wertvolle pädagogische Arbeit der Schule in den letzten 20 Jahre, beleuchteten noch einmal die rechtliche Situation von Konkordatsschulen und empfahlen dem Kreistag die Zustimmung: die Elternnachfrage werde es dann schon richten – so oder so! Für die SPD-Fraktion sprachen die Abgeordneten Reinhard Dierkes (Bilshausen) und Edeltraud Wucherpfennig (Seulingen). Sie verwiesen erneut auf die sehr schwache elterliche Nachfrage, in der zum Ausdruck kam, dass noch nicht einmal die Eltern der katholischen Orientierungsstufe bereit waren, ihre Kinder auf der Schule – im Gymnasialzweig oder in der Realschule - zu lassen, sondern statt dessen die öffentlichen Schulen vorzogen. Sie betonten darüber hinaus, dass die Sorgen hinsichtlich der Zügigkeit anderer Schulen weiterhin bestünden und kritisierten den Vorschlag von Dr. Noack, einen Beschluss zu fassen und dann abwarten zu wollen, wie sich der Elternwille entwickle. Unstrittig sei aber – so der SPD-Abgeordnete und - worauf er selber verwies - ehemalige Konviktschüler Rolf-Georg Köhler (Göttingen) - , dass der Bischöfliche Stuhl berechtigt sei, in Eigenverantwortung eine freie Schule in Duderstadt zu betreiben. Er müsse dann aber auch die finanzielle Verantwortung dafür übernehmen. Die Abstimmung war denkbar knapp: 28 Stimmen waren für die Neuausrichtung der St. Ursula-Schule, 29 Stimmenn lehnten diese ab, weitere 8 Abgeordnete enthielten sich. Das rechtlich zwingend notwendige Einvernehmen des Kreistags war damit nicht hergestellt, das geplante Vorhaben in der vom Bistum gewollten Struktur gescheitert. [12] 

Nur eine Woche später stellte der Kreisausschuss im Umlaufverfahren und ohne jede Aufregung das Einvernehmen des Landkreises Göttingen zur Erweiterung der St. Ursula-Schule Duderstadt um einen einzügigen Realschulzweig her. Das war in den Monaten davor nie strittig und hätte daher schon längst umgesetzt werden können…. 

Nur für wenige Jahre blieb es ruhig. Spätestens, als das Bistum in der Folge der Diskussion um die Einrichtung einer öffentlichen Gesamtschule in Gieboldehausen das Thema der Weiterentwicklung seiner Schule erneut auf die Tagesordnung setzte, begann die abschließende Auseinandersetzung zwischen öffentlichem und kirchlichem Schulsystem, die letztlich dazu führte, dass die St. Ursula-Schule geschlossen wurde. 

 


[1] Eichsfelder Tageblatt vom 29.11.2001: „Dierkes: Dreigliedrigkeit wird im Museum landen“ 

[2] Eichsfelder Tageblatt vom 8.12.2003: „Löst die St. Ursula-Schule das Raumproblem des EGD?

[3] Landkreis Göttingen, Drucksache Nr. B 0024/2004 vom 23.02.2004 Az: 40 11 00

[4] A. a. O. 

[5] A. a. O. 

[6] Schreiben der St. Ursula-Schule vom 19.3.2004 an alle Seelsorgeeinheiten (im Besitz des Verfassers)

[7] A. a. O.

[8] A. a. O. 

[9] Niedersächsischer Landtag – 15. Wahlperiode, Drucksache 15/988, S. 4

[10] Offener Brief ohne Namensangabe,  (im Besitz des Verfassers) 

[11] A. a. O.

[12] Niederschrift über die Kreistagssitzung am 12.05.2004, 17. Sitzung, Wahlperiode 2001-2006, TOP 11