Aus Bilshausen nach Linden und Hannover -Binnenwanderung und Sesshaftwerdung zwischen den Jahren 1860 und 1920
Reinhard Dierkes, im Juli 2024
In dieser Arbeit geht es zwar um die Bilshäuserinnen und Bilshäuser, die nach Hannover und Linden zur Arbeit ausgewandert sind und die ich in einer hier nicht beigefügten Liste zusammengestellt habe. Allerdings gab es in den Kirchenbüchern neben ihnen nachweislich Hunderte von Eichsfeldern, darunter sehr viele Männer und Frauen aus den Mitgliedsgemeinden der Samtgemeinde Gieboldehausen, die das Eichsfeld verlassen haben, um in Linden oder Hannover ein neues Zuhause zu finden.
Um die 120 Bilshäuserinnen und Bilshäuser haben durch Kirchenbücher verschiedener katholischer Gemeinden in Linden und Hannover nachweisbar in den Jahren 1867 – beginnend mit Katharina Schlote (OFB 2365) - bis 1920 - Heirat der Anna Hillebrandt (OFB 1403, Vater: Johannes Hillebrandt) – in der Residenz- und Landeshauptstadt Hannover oder den (heutigen) Stadtteilen wie Linden geheiratet. Was als Wanderarbeit begann – Tätigkeiten bei der Fabrikarbeit, dem Eisenbahn-, dem Kanal- und dem Straßenbau, dem Wohnungsbau und anderen Tätigkeiten -, führte im Laufe der Jahre in vielen Fällen dann zum Wohnortwechsel und damit zum dauerhaften Aufenthalt in der Landeshauptstadt bzw. ihren prosperierenden Vororten. Allerdings hatte diese Binnenwanderung nichts zu tun mit dem gelegentlich besungenen „froh Wanderblut“ der Eichsfelder, wie es uns der Pfarrer und Dichter Hermann Iseke im Eichsfeld-Lied nahebringen möchte: es war die pure Not im armen Landstrich namens Eichsfeld, welche die Männer und Frauen aus Bilshausen und den anderen eichsfeldischen Heimatdörfern vertrieb.
Leider sind keine umfassenden Arbeitnehmerlisten der Unternehmen in Linden mehr zu finden, aus denen man entnehmen könnte, welcher Arbeiter, welche Arbeiterin aus welcher Region stammt. Insofern kann hier immer nur in spekulativer Weise der Beruf eines Bilshäusers/einer Bilshäuserin einer möglichen Betätigung in einem der Lindener Unternehmen zugeordnet werden. Es ist somit hier keine Nachverfolgung einzelner Lebensläufe in Linden zu erwarten. Es geht vielmehr darum, die damals erfolgte Binnenwanderung aus Bilshausen heraus in die erwartbaren Lebensumstände der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Zielorten wie Linden und Hannover einzupassen. Dass die meisten der Binnenwanderer aus dem Eichsfeld im damals eigenständigen Ort Linden tätig geworden sind, ist leicht nachvollziehbar: wegen der nachgefragten Arbeitskräfte für die Unternehmen, die in Linden ansässig waren – und eben nicht in Hannover. Erst später kam mit Döhren („der zweiten Hauptstadt des Eichsfelds“[1]) als Wohnstätte und weiterer Industriestandort dazu. Dass sich die katholische Kirchengemeinde vor Ort genau diesem Phänomen des Zuwachses an Katholiken in einem protestantischen Umfeld ausführlich widmete, ja widmen musste, war erwartbar und soll hier - neben der Beschäftigungssituation - beschrieben werden.
Der berufliche Hintergrund der Binnenwanderer
Dass Bilshäuser Hausierer und Handelsleute schon seit Jahrzehnten ihre Waren auf Wanderungen absetzten, die sie für längere Zeit – manchmal Monate – aus dem Heimatort führten, war eine gewohnte Übung im Dorf und hatte auch bei den Behörden seine Spuren deutlich hinterlassen. In einem Konzessionsgesuch 1835 - an die Landdrostei Hildesheim gerichtet - heißt es dazu: „Bey einer sehr zahlreichen Bevölkerung des Dorfes Bilshausen, bey wenig Eigenthum und einer kleinen Feldflur von demselben, und bey einer von allen Städten in der Umgegend entfernten Lage, wodurch Arbeiten als Tagelöhner in denselben unmöglich sind, bleibt ihnen kein anderer Erwerbszweig übrig als dieser Handel.“[2] Wanderung war aus Armutsgründen lebensnotwendig! [3]
Die Prozesse der Industrialisierung in den verschiedenen Teilen des Deutschen Bundes – dazu gehörten auch das Königreich Preußen (zugehörig seit 1815 das Obereichsfeld) und das Königreich Hannover, dem Bilshausen von 1815 bis 1866 unterstand, besaßen hinsichtlich der Arbeitsnotwendigkeiten und -möglichkeiten aber eine ganz andere Qualität und führten in recht kurzer Zeit zu starken gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb von Dorf- und Stadtgemeinschaften. Beschleunigt wurde der Prozess in manchen Regionen durch den Ausbruch von Cholera-Epidemien, und durch verbreitete Missernten, die in verschiedenen Regionen zu Hungersnöten und hoher (Kinder-) Sterblichkeit führten. Das Fortschreiten der industriellen Fertigung und die daraus folgenden schwierigen Verhältnisse in den Dörfern hatten zur Folge, dass aus den eichsfeldischen Dörfern - und natürlich auch aus Bilshausen heraus - neben einer Auswanderung z. B. nach Nordamerika eine beachtlich starke Binnenwanderung vom Land in die Städte stattfand – sei es als Arbeiter, der die Woche über in der Stadt blieb und am Wochenende wieder ins Dorf zurückkehrte, sei es als dauerhafter Wohnortwechsel in die aufstrebenden Städte. Die Gewerbevereine der großen Städte und Industriegemeinden sahen das ganz realistisch: „Der Überlieferung nach wird man die pauperisierten Unterschichten Südniedersachsens als angesprochenes Arbeitskräftepotential ansehen müssen“.[4] Innerhalb einer Generation veränderte sich dabei die Struktur der bisher ausgeübten Berufe dramatisch. Das lässt sich auch anhand der Heiratslisten im Einzelnen nachweisen.[5]
In der Vätergeneration konzentrierten sich die ausgeübten Tätigkeiten wesentlich auf drei Berufe: [6] Sie waren Korbmacher (32 Väter), Handelsmänner (21) oder Maurer (11). Von den 75 erfassten Väterberufen gehören somit 64 zu diesen drei Hauptberufen – das sind 85 %! Weitere Berufe waren Tischler (4), Schneider (2), Arbeiter (2), Schmied (1), Maler (1) und Zimmermann (1). In der Generation der noch in Bilshausen geborenen Söhne ergibt sich dagegen eine stark veränderte berufliche Struktur, welche die von der industriellen Entwicklung geprägte Wirtschaft spiegelt und sich daher nicht mehr verengt auf wenige Berufe. Die Söhne arbeiteten jetzt zu etwa einem Drittel als Arbeiter (20), worunter wohl der ungelernte bzw. angelernte Arbeiter zu verstehen ist. Danach folgen Maurer (5), Schuhmacher und Maler (je 4), Fabrikarbeiter, Schneider, Handelsleute (je 3) und Zimmermann, Korbmacher, Dachdecker, Fuhrmann und Schmied (je 2). Der Rest verteilt sich auf die neuen Berufe in den Fabriken und bei den Dienstleistungen wie Reifmacher, Gasarbeiter, Samtschneider, Eisenbahner, Gendarm, Schlachter, Bildhauer, Offiziersstallmeister und Versicherungsbeamter. Daneben gibt es noch einen Ingenieur. Die neue berufliche Struktur bildet erkennbar die notwendige Breite einer prosperierenden Wirtschaft in einer dynamischen Stadt ab, eine in der Zeit der Industrialisierung sich immer weiter entwickelnde Spreizung und Spezialisierung im Tätigkeitssektor.
Es fällt sofort auf, dass sich die Zahl der Korbmacher und Handelsmänner drastisch reduziert – bei den Korbmachern von 32 auf 2 mit dieser Profession Beschäftigte und bei den Handelsmännern sinkt die Zahl von 21 auf 3 Männer, die diesen Beruf noch ausüben. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Von den Korbmachern wissen wir, dass sie in überaus großer Zahl in Bilshausen tätig waren und ihre auch durch Kinderarbeit gefertigten Waren zumeist über den Hausierhandel an den Kunden brachten. Sie kamen allerdings am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten durch die Konkurrenz der eher städtischen Manufakturen, in denen Korbwaren günstiger hergestellt werden konnten. Auch für Handelsmänner – gelegentlich Hausierer genannt - war es schwieriger geworden, die Waren zu konkurrenzfähigen Preisen abzusetzen. In den größeren Gemeinden und den Städten hatten sich zunehmend stationäre „Einkaufsläden“ etabliert, in denen die nachgefragten Güter stets vorhanden waren und verkauft wurden. Ein Warten auf den Hausierer fiel weg - und damit sanken auch die Chancen der wandernden Kaufleute, ihre Waren noch loszuwerden. Es verblieben ihnen am Ende nur noch die dünn besiedelten Landstriche und kleine Gemeinden, in denen sich der stationäre Handel (noch) nicht lohnte. Vermutlich haben auch einige der Handelsmänner – geleitet durch ihren Geschäftssinn - die Chance ergriffen und in der Stadt solche Kaufläden in eigener Verantwortung gegründet, darunter sicher auch ehemalige Einwohner aus Bilshausen, die oft noch familiäre Verbindung zu den Herstellern im Heimatdorf besaßen und jederzeit darauf zurückgreifen konnten. Auch waren sie aus dieser zentralen städtischen Situation heraus in der Lage, im stationären Handel ihr Warensortiment nach Belieben der Nachfrage anzupassen.
Sowohl die Bilshäuser Handelsleute als auch die Korbmacher würde man mit den heutigen Begriffen als dem selbständigen Kleingewerbe zugehörig bezeichnen. Sie produzierten auf eigene Rechnung und verkauften ihre üblicherweise in den Familien und mit Hilfe von Kinderarbeit hergestellten Waren in den meisten Fällen selbst bzw. mit Hilfe der einheimischen Handelsleute. Beim Blick auf die beruflichen Entwicklungen der jungen Männer im Vergleich zu ihren Vätern wird klar, dass aus den väterlichen Berufen mit wirtschaftlich eigenverantwortlichen Tätigkeiten bei den Söhnen jetzt ein klarer Fall von abhängiger Lohnarbeit geworden ist. Eine typische Entwicklung in diesen Jahren des 19. Jahrhunderts. Was weiterhin auffällt: Viele der Väterberufe fallen in der ersten städtischen Generation völlig weg, z. B. Bäcker, Leineweber, Gastwirt und Barbier. Diese Struktur war in den Städten offensichtlich schon vorhanden und wurde von anderen, bereits ansässigen Bürgern wahrgenommen.
Die Residenzstadt Hannover
Hannover war schon seit langer Zeit Residenzstadt eines Fürstentums und seit 1815 das Zentrum des Königreichs Hannover. Residenzstädte halten üblicherweise Prachtbauten vor, benötigen Beamte, Schreiber, Kanzleiangestellte, Verwaltungen, Dienstpersonal, Militär, bürgerlich-kulturelle Einrichtungen wie Theater, Musiksäle, eine Universität und anderes mehr, um den Betrieb in einer königlichen Hauptstadt zu gewährleisten und das Königshaus zu repräsentieren. Üblicherweise ist das kein Rahmen für eher ungelernte Arbeitskräfte vom Lande. Aber mindestens ein Bilshäuser – nämlich der 1891 im Heimatdorf geborene Heinrich Kohl – scheint es in die Nähe dieser gehobenen Kreise geschafft zu haben – wenn auch erst zu Beginn des vierten Jahres des 1. Weltkriegs nachweisbar. Im Heiratseintrag in der Kirche St. Maria in Hannover Vahrenwalde (vgl. Sign. 0846- 3/225) wird im Rahmen der am 14.1.1918 stattgefundenen Kriegshochzeit mit Therese, der Tochter des Maschinenmeisters Johannes Menzer, als seine berufliche Position Offiziersstallarbeiter genannt. Das wäre für den gelernten Maler, der keinesfalls von einem Bauernhof stammte (sein Vater war Handelsmann), eine als Soldat im Krieg eher erfreuliche Karriere gewesen sein. Ob er diese Position auch schon vor Ausbruch des Krieges 1914 eingenommen hat – er war bei Kriegsausbruch 23 Jahre alt -, kann nur vermutet, aber nicht nachgewiesen werden. Klar ist jedenfalls, dass die Position ein gewisses Maß an Kenntnissen voraussetzte. Und die eignet man sich nicht erst unter den Bedingungen eines grausamen Krieges an. Unklar bleibt auch, ob ein anderer Bilshäuser – Hermann Rinkleff, geboren 1876 -, tatsächlich den Beruf des Bildhauers ausgeübt hat. Jedenfalls hat er unter dieser Berufsbezeichnung geheiratet. Vahrenwalde gehörte damals zu den in großen Teilen bürgerlichen und „grünen“ Stadtteilen Hannovers. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass er im Umfeld von königlichen Behörden oder gar im Kunstbetrieb gearbeitet hat. Von ihm findet sich sonst keinerlei Spur in Galerien oder Bibliotheken.[7]
Im Umfeld einer Behörde war auch der 1828 in Bilshausen geborene Fußgendarm Lorenz Johannes Biermann tätig – wenn auch nicht direkt in Hannover, sondern im nahe gelegenen Neustadt. Geheiratet hat er im Jahre 1874 in Hannover. Fußgendarme waren meistens ehemalige Militärangehörige, die noch während des Militärdienstes wegen ihrer Zuverlässigkeit für den – wir würden heute sagen – allgemeinen Polizeidienst geworben wurden und dort Aufgaben im Rahmen der öffentlichen Sicherheit wahrnahmen – wozu gelegentlich auch die Beschäftigung mit vagabundierenden Personen und den Hausierern gehörte…. [8]
Der adelig-bürgerliche Residenzhabitus in der Stadt Hannover verhinderte nachvollziehbar den Bau von „Industrietempeln“ und damit den hörbaren Krach dieser Einrichtungen, den schmutzigen Rauch aus den hohen Schornsteinen und die nicht zwingend bürgerlich gekleideten Industriearbeiter. Erst recht aber gestalteten sich die Wohngelegenheiten - kleine Häuser, riesige Wohnbaracken und Notunterkünfte für die Arbeiterinnen und Arbeiter – nicht unbedingt ansehnlich für eine königliche Residenzstadt. Jedoch: Auf den technologischen Fortschritt und die daraus resultierende prosperierende Wirtschaft wollte man in der Stadt auch nicht verzichten. Und so waren es dann oft kleine Dörfer oder Städte im Umkreis, in denen sich der Prozess der Industrialisierung stadtnah - und doch weit genug entfernt - vollzog. In Hannover galt diese Feststellung zuallererst für den Ort Linden, der um das Jahr 1800 herum noch ein idyllischer Ort war. Zwischen den Jahren 1821 und 1848 verdoppelte sich dann aber die Zahl der Einwohner von 1.617 auf 3.366 Einwohnerinnen und Einwohnern – erste sichtbare Auswirkungen der frühen Industrieentwicklung. [9]
Impulsgeber Eisenbahn - die industrielle Arbeitsgesellschaft entwickelt sich
Voraussetzung aller Binnenwanderung ist Mobilität. Das gilt heute – und das galt erst recht vor 200 Jahren. Die Bilshäuserinnen und Bilshäuser waren bis zu dieser Zeit eher zu Fuß oder mit Fuhrwerken als Handelsleute bzw. Hausierer unterwegs. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Das änderte sich schlagartig mit dem Bau der Lokomotiven und der Errichtung von Bahnstrecken. Das Reisen wurde für wandernde Arbeitskräfte und „normale“ Reisende auf ein neues Niveau gehoben. Im Jahre 1867 wurde die Eisenbahnstrecke von Halle über Nordhausen nach Leinefelde und Heiligenstadt eröffnet, noch im gleichen Jahr gab es den Anschluss von Nordhausen über Wulften nach Northeim. Die Strecke von Göttingen über Northeim nach Hannover bestand bereits seit 1854. [10] Der Anschluss des Eichsfelds an die Landeshauptstadt war somit komplett hergestellt, die Ergänzung zwischen Wulften und Duderstadt 1889 nur noch eine kleine zusätzliche Erleichterung. Die wesentliche Voraussetzung für Arbeitskräfte aus Bilshausen und dem gesamten Ober- und Untereichsfeld, die in Hannover ihr Glück suchten, war durch die Schienenanbindung geschaffen.
Auch für die wirtschaftliche Entwicklung war die Eisenbahn das entscheidende Momentum: Der Bau von Bahnstrecken setzte das Material – also die Gleise, den Unterbau, usw. – voraus. Wenn Schienenstrecken befahrbar waren, wurden weitere Lokomotiven und Waggons für den Personen- und Güterverkehr notwendig, die in den gleichen Unternehmen gefertigt wurden. Mehr Güter- und Personenverkehr brauchte mehr Bahnpersonal. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn auch mindestens drei – wahrscheinlich sind es deutlich mehr - Bilshäuser Männer nachweislich bei der Bahn ihr Auskommen fanden: Im Jahr 1866 heiratet Friedrich Buschmann in Hannover. In dem entsprechenden Kirchenbucheintrag steht als Berufsbezeichnung „Eisenbahnarbeiter“, was wohl bedeutet, dass er als Arbeitskraft beim Ausbau des Streckennetzes um Hannover herum beschäftigt war. Eisenbahnarbeiter standen seinerzeit aus verschiedenen Gründen nicht sehr hoch im Ansehen. Zu 80 – 90 Prozent bestand ihre Aufgabe aus herkömmlichen, ungelernten Tätigkeiten wie Erdarbeiten, Berge abtragen, Täler ausfüllen, Trassen vorbereiten, Tunnel bohren, usw... Ein selbst als Arbeiter im Gleisbau beschäftigter Mann formulierte es so: „Der Eisenbahnbau brachte Menschen aus verschiedensten Unterschichtenmilieus und zerstreuten Regionen zusammen: zahlreiche Heuerlinge und Heimarbeiter, Landarme und Landlose aus landwirtschaftlichem Milieu, Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter aus Stadt und Land, absteigende Handwerker und andere. … Besonders die Gegenden mit krisengeschütteltem Heimgewerbe und überforderter Landwirtschaft … schickten ihre daheim nicht auskömmlich versorgten Leute noch auf die entferntesten Baustellen, “ [11] „Paul Göhre, der evangelische Pfarrer, engagierte Sozialreformer und teilnehmende Beobachter des Arbeiterlebens, hat die Eisenbahnbauarbeiter jener Jahrzehnte rückschauend als „eine der niedrigsten Schichten der modernen Arbeiterklasse“ bezeichnet. Unter ihnen seien Angehörige aller Handwerke, ungelernte Arbeiter, namentlich aber junge Leute vom Dorfe und aus der Umgegend vorherrschend gewesen, Sie führten, so Göhre, „ein Leben halb Handwerksburschentum halb Mannöverexistenz ohne Seßhaftigkeit, ohne Heim, ohne irgendwelchen eigenen Besitz, fast ohne jede Verbindung mit der übrigen Bevölkerung, erst recht ohne jede Beziehung zu den allgemeinen und öffentlichen Vorgängen in der Welt; ein Leben in und mit der Natur, in ihrem Schmutz und ihrer Schönheit, in ihren Unbilden und ihrer Sonnenlust. Ein Leben des Zufalls, der Gedankenlosigkeit, riesiger körperlicher Anstrengung, vielfacher Ausbeutung durch Quartierwirt und Unternehmertum; darum ein Leben aus der Hand in den Mund, voller Demoralisierung, Herdendasein“.[12]
Eine herausgehobene Position bei der praktischen Arbeit im Gleisbau hatte vermutlich Lorenz Kellner, der als Bohrmeister beim Tunnelbau große Verantwortung trug. Er war gebürtiger Wollbrandshäuser, in Bilshausen verheiratet mit der Bilshäuserin Rosa Winkler und ihre vier überlebenden Kinder – eines starb jung - wurden alle in Bilshausen geboren. Die Familie ist aber offensichtlich schon Ende der 90-er Jahre nach Hannover gezogen. Vielleicht hat er vorher als klassischer Wanderarbeiter wochenweise in Hannover gelebt, bis der Wohnortwechsel endgültig stattfand. Der 1857 geborene Heinrich Zöpfgen wird bei seiner Heirat im Jahre 1885 als „Eisenbahnbetriebsassistent“ benannt, was eher auf eine für damalige Verhältnisse gehobene Innendienstaufgabe und eine Beschäftigung mit (inner)betrieblichen Abläufen hindeutet. Ein dritter Bilshäuser, Karl Engelhardt, heiratet 1898 und wir erfahren dabei, dass er als „Güterbockarbeiter“ sein Geld verdient hat. Dieser Beruf ist uns heute jedenfalls dem Namen nach nicht mehr bekannt; er ist wohl zu verstehen als ein spezialisierter Facharbeiter für Logistik und Verladetechnik. Damals begann man, alle nur denkbaren Waren auch per Eisenbahn zu transportieren und alle Güter auch umzuladen – sei es auf ein Fuhrwerk oder gar ein Binnenschiff. Dafür brauchte die Bahn entsprechende Güterwaggons und Fachpersonal wie Karl Engelhardt, welches solche Aufgaben bewältigen konnte.
Für den Eisenbahnbau bedarf es vielfältiger Voraussetzungen. Die wichtigste Bedingung – genügend Arbeitskräfte – konnte erfüllt werden über die starken Wanderungs- und Konzentrationsbewegungen in die sich ausbildenden Industriestädte. Wo Eisenbahnen gebaut werden sollen, da sind neben den genannten Arbeitskräften die Rohstoffe Kohle und Eisen, der Werkzeug- und Maschinenbau und Logistik primäre Voraussetzung. Es war ein Geschäftsmann aus Linden – Georg Egestorff, geb. 1802 in Linden -, der die Gelegenheit erkannte und 1846 mit seiner „Hannoverschen Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft“ in den Bau von Lokomotiven einzusteigen. Zehn Jahre später verließ die hundertste Lokomotive das Werk, 1873 war dann die tausendste Lokomotive produziert. Seit dem Tode Georg Egstorffs im Jahre 1868 war der „Eisenbahnkönig“ Henry Strousberg Inhaber des Unternehmens. Die enorme Steigerung des (neudeutsch) „outputs“ an Lokomotiven konnte nur gelingen mit Hilfe einer ausgeklügelten Logistik und durch zugewanderte Arbeitskräfte mit entsprechender Ausbildung. Wir können uns gut vorstellen, dass ein Ingenieur wie Karl Schlote aus Bilshausen beim Konzipieren von Gleisstrecken, Lokomotivteilen oder Werkzeugen bei Egestorff tätig war. Aber auch Facharbeiter wie der Schmied Herrmann Engelhardt – vielleicht beschäftigt in der Eisengießerei – trugen ihren Teil zum Gelingen bei. Oder der Tischler Wilhelm Dietrich in der Modelltischlerei – dort, wo Modelle von Werkteilen oder Waggonbestandteile aus Holz hergestellt wurden. [13] Innerstädtisch spielten die Fuhrleute eine bedeutende Rolle. Sie waren diejenigen, welche den Transport und die zuverlässige Logistik zwischen den einzelnen Betrieben und ihren Zulieferern in der Stadt gewähreisteten. Einer von ihnen war Friedrich Engelhardt, geboren 1854 in Bilshausen. Gewöhnlich fuhren sie mit Pferde- oder Ochsenkarren; und viele von ihnen haben sich in den Jahren als selbständige Unternehmer etabliert – sowohl als Vertragspartner im Waren- als auch im Personenverkehr.
Da viele Betriebe in den ausgehenden zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der Folge der Bismarckschen Gesetzgebung damit begannen für ihre Unternehmen eigene Krankenkassen einzurichten, wurde qualifiziertes Personal notwendig, das diese Kassen zuverlässig und mit Kenntnis der finanziellen Abläufe verwaltete. Dafür stellte man seinerzeit sog. Versicherungsbeamte ein, die zwar den Titel „Beamter“ trugen, die mit dem heutigen Beamtenverhältnis allerdings rechtlich nichts zu tun haben. Einer dieser Versicherungsbeamten war der 1859 geborene Philipp Kohl. In welchem Betrieb oder in welcher Kasse er gearbeitet hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen.
Erwartbar entwickelten die Arbeiter in den technisch in der Spitze angesiedelten Betrieben im Lokomotiven- und Maschinenbau ein positives Selbstverständnis von sich, ihrem Können und ihrer Profession, dass sich von anderen Arbeitern innerhalb des Betriebes und solchen in anderen Unternehmen durchaus unterschied und auch in den Löhnen festmachte. Ein wandernder Fabrikschlosser aus Berlin hat das einmal so beschrieben: „Die Arbeiter auf Maschinenfabriken teilen sich in drei Klassen, und zwar besteht die erste Klasse aus denen, welche durch ihre Profession auf den Maschinenfabriken unentbehrlich sind (Schmiede. Schlosser. Zeugschmiede, Drechsler und Tischler); in die zweite Klasse rechne ich alle die, welche keiner solcher Profession angehören, sondern einer anderen, die sich auf die Fabrik begaben, wo sie durch günstige Umstände, durch Emsigkeit und Talent sich eine Geschicklichkeit erwarben, die ihnen eine ehrenwerte Existenz sichert. Sie nennen sich Maschinenbauer und finden zwischen sich und der ersten Klasse keinen Unterschied, da ihrer Meinung nach ein Schlosser oder Tischler ebensowenig auf die Fabrik gehört als ein Müller …- Die dritte Kategorie - ehemalige Dienstboten, Knechte, Tagelöhner, Heimarbeiter u.a., nach Verdienst, Ansehen und Ersetzbarkeit klar unterlegen und von den Arbeitern der ersten beiden Kategorien nicht als Kollegen akzeptiert - blieb in der Minderheit. Selbst in den größten Maschinenfabriken der Zeit verblieb ihr Anteil, wie es scheint, unter 25%. Diese ungelernte Minderheit kam durchweg aus der nächsten Umgebung, und zwar meistens vom Land; unter den qualifizierten Arbeitern der ersten und zweiten Kategorie kam Fernwanderung vor, anfangs sogar aus dem weiter entwickelten westeuropäischen Ausland.“[14]
Während Egestorff durch den Maschinenbau die Bilshäuser Verhältnisse nur insofern beeinflusste, als dass er den Wanderarbeitern zu beträchtlichen Anteilen qualifizierte Arbeitsgelegenheiten gab, gab es zwei andere Firmen in Linden, die indirekt in die Abläufe im Heimatort eingriffen. Und das geschah nicht nur zufällig, sondern es war in einem Fall sogar eine bewusst gewählte Geschäftsstrategie. Im Jahre 1854 errichtete der Bankier Adolph Meyer die „Hannoversche Baumwollspinnerei und Weberei“ und nur wenige Jahre später formuliert es ein industrienaher Beobachter so: „Ursprünglich…war das Etablissement dazu bestimmt, der in Westphalen und auf dem Eichsfelde schwunghaft betriebenen Handweberei Konkurrenz zu machen und das überschüssige Quantum von Gespinnsten eben dorthin zu verkaufen.“ [15] Das gelang dann in der Praxis nicht! Die Löhne im Unternehmen waren zu hoch, zusammen mit den Investitionskosten konnten die Preise nicht so zu gestaltet werden, dass die eichsfeldische Spinnerei völlig zum Erliegen kam. Der Preisdruck durch die Lindener Konkurrenz allerdings war spürbar und führte auch im Heimatort mittelfristig zum Niedergang der Heimarbeit in diesem Bereich. Einige Jahre vorher war man in Hannover sogar auf die Idee gekommen, den Vorschlag der Polizeidirektion Hannover zu prüfen, „…die Spinnerei von der Residenzstadt fernzuhalten und … besser noch auf dem Eichsfeld anzusiedeln.“ [16] Dazu kam es dann aber nicht.
Neben diesem Unternehmen gab es noch ein weiteres, das sich auf das mechanische Weben konzentriert hatte: „Die Sammet Fabrik Mechanische Weberei zu Linden“. Wie der Name sagt, handelt es sich dabei um die Produktion von Samt (auch „Velvet“, englischer Begriff für Samt), einem Stoff, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Seidenerzeugnissen aufwies und daher - gerade auch in der nebenan liegenden Residenzstadt Hannover mit seinen adeligen und bürgerlichen Kreisen – einen guten Absatz erwarten ließ. Daneben verstand man sich auf die Produktion von „Englisch Leder“, was wir heute wohl als „Moleskin“ bezeichnen würden, genau das, was Arbeiter im Unternehmen und das Militär benötigen.[17]
Es erscheint gut vorstellbar, dass ein beachtlicher Teil der Bilshäuser in den beiden hannoverschen Webereien seine Arbeit gefunden hat. In Webereien und Spinnereien konnten neben den sehr spezialisierten Fachkräften, die oft aus England stammten, viele Arbeitskräfte beschäftigt werden, die über keinerlei oder nur sehr geringe Vorkenntnisse bzw. Fachkenntnisse aus früherer Heimarbeit in der Familie verfügten, also sicher viele Personen vom Land, die in ihren Heiratseinträgen den Begriff „Arbeiter“ oder „Fabrikarbeiter“ für sich gelten lassen. Es handelte sich wesentlich um mechanische, stets wiederkehrende Tätigkeiten, die allerdings wegen der geringen beruflichen Qualifizierungsmerkmale auch nur eine geringe Entlohnung erfuhren. Neben Männern beschäftigte man deswegen im Unternehmen auch Frauen und Kinder. Doch dürfen wir davon ausgehen, dass auch einige wenige sehr qualifizierte Männer aus Bilshausen in diesem Unternehmen ihren Platz gefunden haben. Was spricht dagegen, wenn man dabei an die beiden Schneider Ludwig Wilhelm Trümper und August Zöpfgen denkt oder sogar an den „Sammtschneider“ Friedrich Wilhelm Engelhardt, dessen Berufsbezeichnung doch unmittelbar auf die Mechanische Weberei in Linden und deren Produktion von Samtstoffen verweist.
In der mechanischen Weberei arbeiteten zeitweilig bis 3.000 Beschäftigte. Um eine stets ausreichende Zahl an Beschäftigten vorzuhalten, achtete der Betrieb darauf, das Potential von weiblichen Beschäftigten zu halten und möglichst zu erweitern. Frauen verdienten deutlich weniger Lohn als Männer und sie standen in größerer Zahl als Arbeitskraftreserve zur Verfügung. Um das zu gewährleisten, besann die Betriebsführung sich auf die Möglichkeit, über die Einrichtung einer „Kinderpflegeanstalt“ die Mütter an den Betrieb zu binden und gleichzeitig potenzielle Arbeitskräfte heranzuziehen – die Söhne und Töchter. Was auf den ersten Blick wie eine sinnvolle pädagogisch-soziale Maßnahme daherkommt, kann auf den zweiten Blick ein ganz anderes Gesicht zeigen. In dieser Schule begannen die 60 – 80 Kinder von Weberei-Beschäftigten im Sommer um 5.30 Uhr und im Winter um 6 Uhr – mit der Fabrikarbeit, unterbrochen nur durch je 30 Minuten Frühstück und Vesper sowie 60 Minuten Mittagpause. Zwischendrin (!) gab es drei Stunden Unterricht in den Fächern Religion, Biblische Geschichte, Choralgesang, Lesen, Schreiben, Rechnen. Arbeitsschluss war gegen 19 Uhr. Eine Schule also, die dem Gewerbeamt und den Behörden gegenüber lediglich als formale Begründung für legale Kinderarbeit diente – mehr nicht. [18]
Zu den Zuliefererbetrieben gehörten sicher auch die Küfer, deren Aufgabe es war, Holzfässer herzustellen. Die benötigte man beispielsweise für die Aufbewahrung von Lebensmitteln, aber auch Gerber hatten Verwendung für solcherlei Fässer, um das Leder für die weitere Verarbeitung vorzubereiten. Solche Holzfässer herzustellen war die Aufgabe von Küfern. Die Fässer hielten aber nur zusammen, wenn es Holzreifen gab, die genau das gewährleisteten und die von den sogenannten Reifmachern hergestellt wurden. Diese Reifmacher benötigten ein sehr spezielles und doch umfassendes Berufswissen. Einer dieser Reifmacher war Heinrich Strüber, geboren 1871.[19]
Wo Arbeitskräfte in großer Zahl zuwandern, braucht es neben den Unternehmen auch Infrastruktur und Wohnraum. Das Eichsfeld mit seinen vielen Handwerkern konnte hierbei im wörtlichen Sinne „Aufbauhilfe“ in Linden und in Hannover leisten. Dabei werden die Maurer um Lorenz Engelhardt, Heinrich und Georg Strüber, die Zimmerleute um Friedrich Engelhardt, die Maler um Carl Johann Schley, Lorenz Hobrecht und Heinrich Römermann und die Dachdecker um Heinrich Engelhardt ihren Beitrag zum Wohnungsbau in Linden geleistet haben. Und damit die Einwohnerinnen und Einwohner sicher in ihre neuen Wohnungen gelangen konnten, gab es – nachdem die Residenzstadt mit entsprechender Infrastruktur ausgestattet war - ab 1897 auch in Linden ein erstes Gaswerk, das die neu installierten Straßenlaternen mit Gas versorgte. Dabei dürfte auch der Gasarbeiter Josef Kellner aus Bilshausen geholfen haben.
Die soziale und religiöse Situation der eichsfeldischen Arbeiter in Linden fordert die katholische Kirche heraus
Die sozialen Bedingungen in Linden in der Zeit der industriellen Entwicklung stellten sich für die Bilshäuser Kinder, Frauen und Männer als sehr komplex dar. Sie waren nicht nur die „Zugewanderten“, diejenigen, die zumeist in Schlafstellen oder Baracken betriebsnah untergebracht waren und nach Männern, Frauen und Kindern, als Ungelernte und Facharbeiter unterschiedlich verdienten. Sie lebten darüber hinaus auch in einem ungewohnten religiös-kulturellen Umfeld - als Katholiken inmitten einer großen Mehrheit von Evangelischen. Der Alltag war durchaus dazu angetan, Dinge zu machen, die man im Heimatort schon wegen der sozialen Kontrolle tunlichst vermieden hätte. Manche von ihnen fielen bei den Behörden auf. „Bei der Überbevölkerung und Armut des Eichsfelds mag es allerdings [den Menschen] … schwerfallen, sich in ihrer Heimat dauernd Arbeit… zu verschaffen. Indes scheint die Neigung zum Wandern bei der Bevölkerung des Eichsfelds noch weiterzugehen, als die Not solcher… und [es] erklären sich dadurch auch die … sittlichen Zustände, welche das Wandern der Arbeiter zur Folge hat.“[20] Konkreter drückt es ein Polizeibericht aus dem Jahre 1859 aus, wenn darin feststellt wird, „…das wüsteste Leben führen die im Vorort Linden in großer Menge in der Nähe …zusammengedrängten Fabrikarbeiter, in Betreff derer zwar nicht mehr wie früher geduldet wird, daß beide Geschlechter zusammenwohnen und schlafen, die aber an ihren Ausschweifungen nur schwer gehindert werden können…“ [21] Dazu kam die durchaus berechtigte Sorge bezüglich Mangelernährung und Verwahrlosung im Hinblick auf „… Knaben, in der Regel Kinder auf dem Eichsfeld wohnender armer Eltern, welche den größten Theil des Arbeitsverdienstes dieser jugendlichen Arbeiter in Anspruch nehmen, so daß letztere nur wenig von ihrem Verdienste übrig behalten und daher meistens jedes Erwerbs genügender Kost, deren sie bei oft anstrengender Arbeit so sehr bedürftig sind, nicht im Stande sind.“ [22]
Zwar hatte neben der Weberei auch das Unternehmen von Egestorff 1864 eine Kleinkinder-Warteschule – die aber eher eine Kinderaufbewahrungsstätte war, keine Schule im eigentlichen Sinn - eingerichtet mit dem Argument, die Anstalt sei für „…einen von Arbeitern so stark bevölkerten Ort wie Linden … besonders nützlich, da die Kinder von leiblicher und geistiger Verwahrlosung geschützt, auch die Mütter in den Stand gesetzt werden, den Ehemännern bei Erwerb kräftig helfen zu können.“ [23] Nur war das ein Tropfen auf den heißen Stein, und angesichts der stark wachsenden Bevölkerung durch zuwandernde Familien und junge Menschen - darunter auch die katholischen Zuwanderer aus Bilshausen und den anderen eichsfeldischen Dörfern - musste gehandelt werden. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Werfen wir einen kurzen Blick auf die damalige Entwicklung des katholischen Bevölkerungsanteils:
In der Residenzstadt Hannover stieg die Zahl der Katholiken von 5.481 Personen (7,4 %) im Jahre 1867 über 21.853 (9,3 %) im Jahre 1900 auf 31.294 (10,3 %) im Jahre 1910. Das ist im Hinblick auf die katholische Religion das fast Sechsfache innerhalb von 43 Jahren. In absoluten Zahlen bedeutet das für Hannover eine Zunahme der Bevölkerung von 74.000 (1867) auf etwa 304.000 Einwohner. Daher die relativ geringe Zunahme bei den Prozentzahlen für die Katholiken. In Linden stieg der relative Anteil an Katholiken von 3.477 Personen (13,7 %) im Jahre 1885 auf 9.575 Personen (16,5 %) im Jahre 1905. Relativ gesehen eine Steigerung von knapp 3 Prozentpunkten, die sich bei der Gesamtentwicklung der Bevölkerung jedoch anders interpretieren lässt: Der Zuwachs entsprach einer absoluten Steigerung der Zahl von Katholiken in Höhe von 6.000 Personen innerhalb von 20 Jahren. Die Bevölkerung in Linden wuchs in der Zeit allerdings von 25.000 Einwohnern auf 58.000 Einwohnern. Es ergab sich ein deutlicher Handlungsbedarf hinsichtlich zweier Felder: Es galt, die baulichen und die seelsorgerlichen Voraussetzungen für die Betreuung der zugewanderten katholischen Bevölkerung zu schaffen und eine kirchliche Infrastruktur zu entwickeln, um die oben geschilderten Probleme der Sittlichkeit in den Griff zu kriegen und ganz nebenbei die Arbeiterschaft dem befürchteten „Sozialismus“ der Arbeiterbewegung, die in Linden besonders stark etabliert war, zu entreißen und etwas dagegenzusetzen. Die Grundlagen dafür hatten die Abgeordneten in der Folge der Auseinandersetzungen um die Assoziationsfreiheit - also: die Vereinigungsfreiheit, das Recht zur freien Vereinsgründung - in den Debatten des Paulskirchenparlaments 1848 geschaffen.
Es gab in Hannover (nicht in Linden!) nur eine katholische Kirche: die St. Clemens-Kirche, deren Zuständigkeit sich zunächst auf alle in Hannover und Linden ansässigen Katholiken erstreckte. Pastor dort war Joseph Schlaberg (1816-1873), gebürtiger Hildesheimer und 1849 Kaplan in Duderstadt.[24] Angesichts des Zuzugs von katholischen Arbeitern konnte das nicht reichen.
„Infolge der Industrialisierung konnte sich in Linden eine kath. Gemeinde entwickeln, die 1871 im Umkreis von 30 km 6.000 Mitglieder zählte. Besonders Eichsfelder Katholiken beschäftigte man in den Webereien; in den Arbeiterkolonien … fanden sie Unterkunft. Ihre seelsorgliche Betreuung ging zunächst von der Propsteikirche St. Clemens in Hannover aus.“ [25] Gottesdienste gab es gelegentlich auf dem sogenannten „Heuboden“, dem Obergeschoss über dem Saal einer Gaststätte in der Blumenauer Straße in Linden. Im Jahre 1874 entstand dann in Linden ganz neu die St. Godehard-Gemeinde mit einer eigenen Kirche. Und bereits1886 oblag dieser Gemeinde die Verantwortung für 4.000 Gemeindemitglieder. Damit gehörte sie in der Zeit zu den drei größten katholischen Kirchengemeinden in der Diözese Hildesheim – neben Hannover und Braunschweig - man kann sicher sagen: die größte „ausgelagerte“ eichsfeldisch-katholische Gemeinde. Und St. Godehard wuchs weiter. Schon knappe 10 Jahre später – 1895 – lebten bereits 7.000 Katholiken in Linden, „…ein weiterer Anstieg auf 10.000 – 12.000 wurde erwartet.“[26] Eine neuer Kirchenbau musste her, um die wachsende Gemeinde zu fassen. Der damalige Pastor Friedrich Henniges (1842-1902) – wir kennen ihn schon aus seiner Tätigkeit in Neustadt und übrigens ein Eichsfelder [27], aus Lindau gebürtig – begann in der Gemeinde und darüber hinaus eine Spendensammlung. St. Godehard war eine Arbeitergemeinde – und somit nicht die reichste Gemeinde im Umkreis. Die Bettelbriefe des Pastors waren der Überlieferung nach legendär. Sogar ein Geistlicher bei der Felddivision in China, der aus dem Obereichfeld stammte und über diesen Umweg wohl Kunde von dem geplanten Kirchenbau in Hannover bekam, meldete sich bei Pastor Henniges mit einem etwas holprigen Gedicht und einem finanziellen Beitrag aus der Ferne – 30 Mark.[28] Schon Ende 1902 war der Bau des neuen Gotteshaues vollendet – die Pfarrkirche St. Benno stand. Einen beträchtlichen Teil finanzierte das Bonifatiuswerk, das schon seit 1872 einen Zweigverein in Linden unterhielt.
Der weitaus größte Teil der neuen Gemeinde hatte seine Wurzeln im Eichsfeld. Und auch sehr viele Bilshäuserinnen und Bilshäuser waren Mitglied dieser Gemeinde, wurden dort getauft, gefirmt und heirateten dort. Die beigelegte Liste der Heiratseinträge aus dem Kirchenbuch legt davon Zeugnis ab. Aus guten Gründen steht daher im Grußwort für die Chronik zum 100-jährigen Jubiläum gleich zu Beginn dieser Satz: „Vor 100 Jahren konnten die meisten „Bennonen“ sagen: Meine Eltern (oder Großeltern) stammen vom Eichsfeld.“[29] Erster Pastor in St. Benno war Karl Neisen, vorher Kaplan bei Pastor Henniges in der Muttergemeinde St. Godehard. Der für das Pastorat dort vorgesehene Pastor Henniges war im Juli 1902 überraschend verstorben – kurz vor der Vollendung des Kirchenbaus. Neisen blieb bis 1911 als Pastor in St. Benno, bevor er dann als Pfarrer in den Eichsfeldort Gieboldehausen versetzt wurde. Seine Stelle als Pastor in Linden übernahm bis ins Jahr 1927 der bisherige Stadtkaplan von Duderstadt Gustav Becker. Die Tradition des geistlichen Austauschs zwischen dem Eichsfeld und der Diasporagemeinde Linden dauerte fort.[30]
Seitens der Kirchenverantwortlichen gab es von Beginn an in der St.-Godehard-Gemeinde und dann in der St. Benno-Gemeinde die große Sorge hinsichtlich des Abfalls vom Glauben bei den eichsfeldischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Und so wurde recht bald ein katholischer Arbeiterverein gegründet, dessen klar definierte Aufgabe es war, die katholischen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht an die Gewerkschaften zu verlieren, um sie für die eigene Sache, die katholische Arbeiterbewegung zu gewinnen. Die Chronik formuliert das so: „Bereits in den Anfangsjahren der St. Godehard-Gemeinde erhielt der KAVL (Katholische Arbeiterverein Linden) durch die Sozialreformbestrebungen der Kirche …und durch die fast unerträglichen Zustände in den Fabriken sowie endlich durch den bald einsetzenden Druck der marxistischen Mehrheit erheblichen Aufstieg.“[31] Aber auch der Bonifatiusverein – gegründet 1850/51 mit der klaren Aufgabe, sogenannte „Missionsgemeinden“ in jeder Hinsicht finanziell zu unterstützen – also solche katholischen Gemeinden, die als Diasporagemeinden um sich herum nur evangelische Kirchengemeinden kannten – förderte die Benno-Gemeinde. Und das Merkmal „Missionsgebiet“ schien ja erfüllt, „…wenn hier in wenigen Jahren Tausende junger Familien von dem katholischen Eichsfeld, aus Oberschlesien und dem Rheinlande zuziehen, … ist Linden-Nord eben eine Missionsstation in der es um den Unterricht von 600 – 1.200 – 1.500 Kinder [32], in der es um die Seelen der in ihrem Glauben hart bedrängten Arbeiterschaft geht.“ [33] Dass diese Gefahr real war, ist durch andere Quellen zum Verhalten der „bedrängten“ Arbeiterschaft in den Betrieben belegt: „Man trat aus der Kirche aus, bewegte sich nur im Umfeld der eigenen Organisationen und bildete so gleichsam ein „Lager“ innerhalb der Gesellschaft. Als Gegner galt das bürgerliche Lager.“ [34]
Der Kampf um die Arbeiterschaft galt auch den Arbeiterinnen. Wenn die Frauen in die Fabriken gingen (und das war ja in den meisten Fällen für das Überleben der Familien notwendig), dann brachte „…das sehr leicht sittliche Gefahren mit sich. Die Frau kann sehr leicht gegenüber ihrer fraulichen Arbeit abgestumpft werden.“[35] Um hier innerhalb der Kirchengemeinde Einfluss zu nehmen, kam es zur Gründung eines Arbeiterinnenvereins. Ein weiteres, wirklich soziales Wirken gelang durch die Einführung einer Sterbekasse im Rahmen des „Caritativen Hilfswerkes von St. Benno“, um Beerdigungen würdig zu gestalten und diese zu bezahlen, wenn die Angehörigen dazu nicht in der Lage waren. Und das waren angesichts der Lebens- und Arbeitsbedingungen sehr viele. Dazu nahm die Gemeinde regelmäßige Umlagen von ihren Mitgliedern ein – eine Art Vorläufer der heutigen Sterbekassen unter kirchlicher Obhut. [36]
Neben dem Argument der Rettung aus gesellschaftlich eher „unkatholischen“ politischen Bestrebungen und Verhaltensweisen im Hinblick auf die erstarkende Arbeiterbewegung gab es eine weitere Entwicklung, die der Geistlichkeit große Sorgen bereitete. In den von Joseph Görres begründeten „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“ beklagte man offen, dass es immer mehr „Mischehen“ gab. „Bei der letzten Volkszählung fanden sich 1594 gemischte Ehen in der Stadt Hannover, in denen 607 Männer protestantisch und 987 katholisch waren. Von diesen katholischen Vätern lassen 436 (!!) ihre Kinder protestantisch erziehen, während unter den 607 katholischen Frauen 311 (!!) in die protestantische Erziehung ihrer Kinder willigen.“[37]Diesem Trend sollten die verschiedenen Vereinsgründungen im Umfeld der Gemeinde begegnen. Vor Ort in Linden sah man das nicht so eng und daher liest man in der Pfarrchronik St. Benno dazu folgendes: „In den 50 Jahren der Benno-Gemeinde sind konfessionelle Gegensätze oder gar Gehässigkeiten nie vermerkt worden…Auch die katholischen Grundsätze der Mischehenfrage mußten stets beachtet werden.[38] Ein religiöses Misch-Masch kann nichts Gutes bringen.“[39]
Hinter dem Einverständnis beider Konfessionen stand jedoch nicht nur eine kirchlich-religiös motivierter Pragmatismus, sondern vielmehr eine eben schon beschriebene gemeinsame Abwehrhaltung gegenüber den politischen Bestrebungen weiter Teile der Arbeiterschaft in Linden. In der Benno-Chronik wird das so formuliert: „In Linden herrschte stets unter den beiden großen Konfessionen gegenseitige Achtung und Toleranz. Das hat sicher seinen besonderen Grund. Der ungläubige Materialismus konnte unter der Arbeiter-Bevölkerung Lindens sehr stark Fuß fassen, und katholische und evangelische Gemeinden waren damals mehr als anderswo vor die brennende Aufgabe gestellt gegen den Unglauben zu kämpfen. Sie konnten es sich nicht leisten, christliche Bruderkämpfe zu führen.“ [40]
Ein interner Konflikt, der sich zwischen den für gesellschaftliche Gegebenheiten offenen Geistlichen und Laien in Linden und deren Bezugnahme auf die katholische Soziallehre rheinischer Prägung auf der einen Seite und den sehr konservativen Ansichten eines Teils des Klerus, der den Neuaufbau der Gesellschaft auf religiös-kulturellen Fundamenten erreichen wollte. In Linden wurde offensichtlich im Jahre 1902 ein katholischer Männerverein St. Benno gegründet, dessen Anerkennung aber durch geistliche Kräfte bis ins Jahr 1908 hintertrieben wurde.[41] Angesichts der Jahreszahl wird es sich dabei um einen Ableger des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ unter anderem Namen – der Verein war umstritten - gehandelt haben. In der Festschrift von 2002 findet man diesen Verein nicht wieder – unter keinem der beiden Namen. Die Bilshäuser waren damals traditionell Zentrumswähler, wie wir aus den Wahlergebnissen in Bilshausen und seinen Nachbarorten wissen. Da das Zentrum als politische Vertretung des Katholizismus in Hannover keine Rolle spielt, sondern zwischen Welfenpartei, preußischen Liberalen und Sozialisten, die mit dem früheren Zigarrenarbeiter Heinrich Meister zwischen 1884 und 1906 den mit großer Mehrheit versehenen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten stellten, praktisch nicht vorkam, ging man - den Kulturkampf noch stark verinnerlicht - in eine demonstrative Oppositionshaltung zu Preußen. Die oben schon angedeutete Auseinandersetzung auf der Ebene der Bischöfe fand ihren Ausdruck in einer Kontroverse zwischen dem in Duderstadt geborenen und den Preußen wohlgesonnenen Breslauer Kardinal und Fürstbischof Georg Kopp,[42] der zu den „Fundamentalisten“ der „Berliner Richtung“ gehörte und der von einer „Verseuchung des Westens“ redete (damit meinte er das katholische Rheinland und seinen Bischof!) und die „in München(!)-Gladbach betriebene krankhafte Interkonfessionalisierung und Laicisierung“ jedenfalls in seiner Diözese unterband.[43]
Da die Lindener Gemeinde hauptsächlich aus Eichsfeldern, Rheinländern und Schlesiern bestand, kann man davon ausgehen, dass Eichsfelder und Rheinländer hier klar auf der Seite des „Fortschritts“ standen, während die Schlesier als Zugezogene aus der Diözese des Kardinals Kopp hier vielleicht eher bremsten – neben den Verantwortlichen der Diözese Hildesheim, die hier vorsichtig und gegen den Willen der Benno-Männer agierten. Schon 1904 hatte der katholische Arbeiterverein in Linden ein Vereinshaus erbaut, wegen seiner Bauweise auch „Katholischer Bahnhof genannt“, in dem ganz im Sinne des rheinischen Volksvereins insbesondere für die katholischen Laien Bildungsveranstaltungen, Konferenzen, Vorträge, Fortbildungen, usw. angeboten wurden. In der Festschrift ist das in diesen Worten nachzulesen: „Das große Verdienst der Zentrale in München(!)-Gladbach, an der fast alle „großen Männer“ der christlichen Gewerkschaften, der Zentrumspartei und vor allem die breite Masse der katholischen Laienführer als Schüler und später als Lehrer gewirkt haben, ist die Schaffung einer breiten, aktiven Abwehrfront des Christentums gegen die Irrlehrer der liberalen und marxistischen Weltanschauungen.“[44]
Erst im Jahre 1908 gab es die Anerkennung durch den Bischof, die der damalige Benno-Kaplan Billigmann als ein Befürworter der fortschrittlichen Richtung so kommentiert: „Eine Bombe kann nicht schlimmer in einen feindlichen Haufen einschlagen als diese Anerkennung in die Reihen der erbitterten Vereinsgegner. Statt sich zu freuen, dass ihnen ein neuer Bundesgenosse gewachsen ist, glaubten diese Elemente die „gefährdete katholische Sache“ verteidigen zu müssen, in dem sie ehrenwerte Männer brandmarkten. Voll Schmach war jene Zeit, doch nicht für die Bennomänner, sondern für ihre Gegner.“[45]
Schlussgedanken
Fassen wir die Hoffnungen der Binnenwanderer für die jeweils persönliche Zukunft für sich und für ihre Familien zusammen und konfrontieren sie noch einmal kurz mit der damals erwartbaren Realität und der Einstellung der Großindustriellen. Warum weg aus Bilshausen?
- Die Hoffnung bestand sicher darin, der Not, dem Hunger, dem eingeschränkten Arbeitsangebot und daraus folgend der mangelnden Perspektive vor Ort, der drohenden Arbeitslosigkeit mit ihren Folgen zu entfliehen und den Kindern eine bessere Chance für eine berufliche Entwicklung zu eröffnen. Vielleicht war bei einigen Bilshäusern auch der Wunsch dabei, einer als „eng“ gefühlten sozial-kulturellen Situation zu entkommen – ausgelöst durch Kontakte mit bereits fortgezogenen Bilshäuserinnen und Bilshäusern.
- Die wirtschaftlichen Bedingungen, die Not vor Ort ließ vielen Familien jedenfalls kaum eine andere Wahl. „Ein besseres Leben als den Tod findest du überall!“ So könnte man mit den Bremer Stadtmusikanten deren soziale Utopie – sich gemeinsam auf den Weg machen, einer aussichtslosen Situation zu entkommen und ein neues, ein besseres Leben aufzubauen - auf die eichsfeldischen, die Bilshäuser Wanderarbeiter und Auswandererinnen übertragen. Auch sie brachen auf in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
- Sie kamen in eine industriell aufgestellte, vom protestantischen Glauben geprägte und in weiten Teilen welfisch orientierte städtische bzw. stadtnahe Gesellschaft, die in großen Teilen die religiös-kulturellen Gewohnheiten der Neuankömmlinge als befremdlich empfunden hat; und diese Einstellung wurde auf beiden Seiten zusätzlich verstärkt durch den in der Zeit stattfindenden oder gerade beendeten Kulturkampf, der noch immer stark im Denken vieler Menschen verhaftet war. Für die Ausübung der katholischen Religion gab es zu Beginn nur sehr wenig Raum – weder baulich noch strukturell im Hinblick auf Möglichkeiten zum Austausch.
- Politisches Stimmengewicht besaßen sie auch nicht, sie waren in dieser Hinsicht schlicht unbedeutsam. Das Zentrum als der Partei des Katholizismus spielte überhaupt keine Rolle in Linden und Hannover und kam lange Jahre in der politischen Praxis vor Ort überhaupt nicht vor.
- Die Arbeitsbedingungen, unter denen sie das eigene Überleben und das der Familie sichern mussten, waren äußerst schwierig: „Zwölf- und mehrstündige Arbeitstage, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen…, unzureichende Ernährung, …sehr geringe Löhne, periodisch wiederkehrende Arbeitslosigkeit und Hungerzeiten, sehr schlechte Wohnbedingungen und eine hohe Säuglingssterblichkeit,“[46] prägten den Alltag in den Fabriken und in den Familien. „Selbst Egestorff sah sich veranlasst, unter dem Druck der Hungersnot der Arbeiter eine Speiseanstalt bauen zu lassen, wo den Darbenden relativ preiswerte Suppen verabreicht wurden“.[47] Auch das war ein probates Mittel, die Fabrikarbeiter an das Unternehmen zu binden. Die Disziplinierung vollzog sich aber noch vielschichtiger: Die Beteiligung an einem Streik hätte zur Folge gehabt, dass der Arbeiterfamilie die ohnehin bescheidene Wohnung gekündigt worden wäre, wenn sie denn eine hatten. [48]
- Die Unterbringung einzelner Arbeiter und der Familien – von den Eisenbahnarbeitern gar nicht zu reden - war zu Beginn der Wanderungswelle katastrophal schlecht und unter hygienischen Aspekten eigentlich kaum zumutbar. Sie verbesserte sich erst in den folgenden Jahrzehnten nach und nach. „Wurden die ersten Arbeiter noch in notdürftig ausgebauten teils verschlagartigen Kammern der alten Bauernhäuser untergebracht, begann in der Mitte des Jahrhunderts ein an schnellen Profiten orientierter Arbeiterwohnungsbau, der von den wenigen Grundeigentümern als Spekulationsobjekt vorangetrieben wurde“.[49]
- Es lag an der ersten Generation, unter großen Entbehrungen und mit Anstrengung die Grundlage für die Entwicklung der Kinder zu schaffen, ohne in der Masse für sich selbst schon zu großen Erfolgen oder gar Wohlstand zu gelangen. Nachfolgende Generationen mögen es dann etwas einfacher gehabt haben und wurden dann akzeptierte Einwohner von Linden bzw. hannoversche Bürgerinnen und Bürger. Über eine Rückwanderung in einem größeren Ausmaß ist jedenfalls nichts bekannt.
- Es war nicht die Auswanderung in ein Paradies, aber es war eine Wanderung, die angetrieben wurde durch die eigene, als perspektivlos empfundene wirtschaftliche und berufliche Situation und dem Willen, der nachfolgenden Generation diese Erfahrungen zu ersparen und deren Leben angenehmer zu machen. Irgendwie ein moderner - und doch zeitloser – Gedanke…
-
Das Schlusswort soll der Großindustrielle Alfred Krupp haben:
„Genießet, was euch beschieden ist. Nach getaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen, … und sinnt über Haushalt und Erziehung. Das sei Eure Politik… Höhere Politik…erfordert mehr freie Zeit und Einblick in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist… Das Politisieren in der Kneipe ist nebenbei sehr teuer.“ [50]
So hatte sich Herr Krupp das gedacht.....
[1] DISTA_LL_1902_1952_Pfarrchronik_1_St_Benno.pdf - Seite 89, Zugriff am 16.7.2024
[2] NLA Hannover, Hann 80 Hild IF 277, zitiert bei Detlef Schmiechen-Ackermann, Ländliche Armut und die Anfänge der Lindener Fabrikarbeiterschaft, Hildesheim 1990, S. 244
[3] Diese Armut war weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Selbst in der Breslauer Zeitung vom 17. April 1879, einem preußisch-konservativen Blatt, wird gegen den eichsfeldischen „Ultramontanisten“ Dr. Zehrt polemisiert mit dem Satz: „Derselbe stammt vom Eichsfelde, bekanntlich dem ärmsten und hungrigsten Strich norddeutscher Erde, und berichtet, daß dem Hunger der dortigen armen Bevölkerung doch noch 847 Thlr. als Peterspfennig abgejagt ist.“ Zitiert in: https://dfg-viewer.de/show/?set%5Bmets%5D=https://content.staatsbibliothek-berlin.de/zefys/SNP27825061-18700417-0-0-0-0.xml
[4] Mitteilungen des Gewerbevereins für das Kgr. Hannover 1841, 27. Lieferung, zitiert bei Detlef Schmiechen-Ackermann, a. a. O., Seite 131
[5] In der Liste sind die Berufe von Vätern von in Bilshausen geborenen Söhnen und Töchtern erfasst, die zum Zeitpunkt der Heirat in Hannover ansässig waren. Bei den Töchtern ist in den Kirchenbüchern fast ausnahmslos der Begriff „ledig“ erfasst (nur Katharina Tischmann wird als Köchin bezeichnet), was wohl darauf hinweisen soll, dass die Frauen nicht in den Fabriken arbeiteten. Das ist allerdings in der Praxis so nicht gewesen, wie wir später noch nachweisen werden. Wann der Wohnortwechsel der genannten Personen nach Hannover stattgefunden hat und wo genau sie wohnten, lässt sich wegen fehlender Volkszählungsunterlagen heute nicht mehr feststellen. Interessant wären in dem Zusammenhang die Erhebungsdaten aus Hannover-Linden; die wurden allerdings bei einer Überschwemmung zu größten Teilen vernichtet, Reste sind nicht einsehbar.
[6] Dazu muss aus Gründen der statistischen Klarheit ergänzt werden, dass der Beruf eines Vaters bei z. B. zwei Söhnen doppelt genannt wird. Da auch die Berufe der Söhne dann doppelt genannt werden, ist das Verfahren nachvollziehbar. Die Berufe der Töchter werden nicht genannt; daher gibt es hier keine Entsprechung. Sehr viele von ihnen werden aber bereits in den Fabriken, als Haustöchter oder „Dienstmädchen“ gearbeitet haben.
[7] Allerdings gibt es noch heute eine Galerie Gabriele Rinkleff in Hannover bzw. Garbsen. Ob sie in einer Verbindung zu unserem Bildhauer steht, konnte nicht ermittelt werden. die Anfrage wurde nicht beantwortet. Gabriele Rinkleff - Die wunderbare Welt des Aquarells - Galerie CC (galerie-cc.de)
[8] Im kleinen Neustadt gab es eine Expositur („Außenstelle“) der katholischen Gemeinde Hannover. Als Seelsorger und Religionslehrer wirkte dort der hannoversche Kaplan Friedrich Henniges – später Bauherr von St. Benno. Es gab in Neustadt eine Eisenhütte, in der über 300 katholische Arbeiter – darunter viele Polen - beschäftigt waren, aber nur wenige Untereichsfelder. Solch eine Ansammlung von fremden Arbeitskräften in einer kleinen Stadt galt in den Augen der Polizei sicher als eine soziale Situation, die ein besonderes Interesse der Polizeibehörde hervorrufen musste. Vgl. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Band 89, S. 751
[9] https://punkt-linden.de/4980/geschichte-von-linden-die-anfaenge/ (Internetzugriff am 8.Juli 2024)
[10] Die Eisenbahn war seinerzeit umstritten. König Ernst August – offenbar noch im Zeitalter der Kutsche verhaftet - wird zitiert mit dem Satz: „Ich will keine Eisenbahn in meinem Lande. Ich will nicht, dass jeder Schuster und Schneider so rasch reisen kann wie ich.“ Vgl. Eisenbahnstrecke von Hannover bis Lehrte wird eröffnet - Hannover entdecken ... (hannover-entdecken.de) Zugriff am 8.7.2024. Die Preußen waren da strategisch wesentlich moderner und nutzten ihre Eisenbahnen früh als schnelle Möglichkeit für Truppenverlegungen, was ihnen einen entscheidenden Vorteil 1866 in der Schlacht bei Langensalza verschaffte, was dann das Ende des Königreichs Hannover einleitete. Die Auflösung des Königreichs Hannover und die Übernahme durch Preußen gab wegen der industriefreundichen Haltung der preußischen Regierung der Stadt Linden noch einmal einen besonderen Schub, der sich auch in der Zuwanderung bemerkbar machte.
[11] Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters (Karl Fischer, hg. v. P. Göhre«. Leipzig 1903, S. 140, 150,169, 174, 205 - zitiert bei Kocka, Jürgen: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen: Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert / Jürgen Kocka. - Bonn: Dietz, 1990
[12]A.a.O., Seite 369
[13] https://www.digitales-stadtteilarchiv-linden-limmer.de/Document/firmenportraet-hannoversche-maschinenbau-aktien-gesellschaft-vorm-georg-egestorff-1891/ Zugriff am 11.7.2024
[14] W. Fischer, Innerbetrieblicher und sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft (1964), in: ders. Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze - Studien - Vorträge, Göttingen 1972, S. 258-284, 263, zitiert bei Kocka, Jürgen: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen: Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert / Jürgen Kocka. - Bonn: Dietz, 1990
[15] https://www.digitales-stadtteilarchiv-linden-limmer.de/Document/firmenpoertraet-hannoversche-baumwollspinnerei-und-weberei-1891/ Zugriff am 11.7.2024
[16] Mitteilungen des Gewerbevereins für das Kgr. Hannover 1841, 27. Lieferung, zit. bei Detlef Schmiechen-Ackermann, a. a. O., Seite 131 (Anm. d. Verf.: Wenn der Gewerbeverein hier vom Eichsfeld redet, ist das Untereichsfeld gemeint, denn das Obereichsfeld war zu der Zeit preußisch und hannoversche Polizeibehörden und Gewerbevereine hatten jenseits des Königreichs Hannover keinerlei Zuständigkeiten.)
[17] https://www.digitales-stadtteilarchiv-linden-limmer.de/Document/firmenpoertraet-mechanische-weberei-in-linden-vor-hannover-1891/ Zugriff am 11.7.2024
[18] Vgl. Niedersächsisches Landesarchiv NLA Hann. 80 Hann I A 2325
[19] Wie genau der schwierige Prozesse der Herstellung von Holzreifen ablief, kann nachgelesen werden in: Duhamel du Monceau, Henri Louis, Von Fällung der Wälder und gehöriger Anwendung des gefällten Holzes Oder Wie mit dem Schlag-Holz, dann halb- und ganz ausgewachsenem Ober-Holz, umzugehen, und alles benannte Holz richtig zu schäzen und anzuschlagen ist: Nebst einer Beschreibung der Handwerker, die ihre Arbeit in den Wäldern verfertigen, als ein zur vollständigen Abhandlung von dem Forst-Wesen gehöriger Theil. 1, Nürnberg: Winterschmidt (1766), Seite 162-167
[20] NLA Hannover, Hann.80 Hann I E 41, „Maßregeln in Beziehung auf die Wanderungen der Arbeiter vom diesseitigen Eichsfelde und die aus diesen Wanderungen hervorgehenden Übelstände, 1858-1859“, zitiert bei Schmiechen-Ackermann, a.a.O. S. 326
[21] NLA Hannover, Hann 80. Hann. I A 2171, Bericht der Polizeidirektion der Landdrostei vom 26.10.1859, betreffend die Anwendung des § 46 der Gewerbeordnung auf das Halten von Schlafstellen für Arbeiter, zit. nach Schmiechen-Ackermann, a.a.O. S. 284
[22] NLA Hannover, Hann 80. Hann. I A 2171, Bericht der Polizeidirektion der Landdrostei vom 26.10.1859, betreffend die Anwendung des § 46 der Gewerbeordnung auf das Halten von Schlafstellen für Arbeiter, zit. nach Schmiechen-Ackermann, a.a.O. S. 287
[23] Egestorff, Vierzig Jahre gesegneter Arbeit von Georg Egestorff, Linden 1866, zit. nach Schmiechen-Ackermann S 164
[24] Joseph Schlaberg, der als junger Geistlicher Duderstadt und das Eichsfeld kennengelernt hatte, musste 1867 nach dem Ende des Königreiches Hannover wegen Widersetzlichkeit gegen die Eingliederung des hannoverschen Königreichs in das preußische Reich und einer von ihm verantworteten Druckschrift („Wortlaut der Rede vom 7. Oktober 1866 über den Verlust der Selbständigkeit des Königreichs Hannover. Ein Abschiedswort ans Vaterland“) das Land verlassen und ging nach Österreich ins Exil. Er starb 1873 in Wien. Vgl.: bundesarchiv.de/nachlassdatenbank/viewsingle.php?category=Sch&person_id=12240&asset_id=13277&sid=47fe7326669a72bbebde5 (Zugriff am 20.4.2024)
[25] 1902-2002 Pfarrgemeinde St. Benno, Hannover-Linden (Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum, Hannover 2002. Ich stütze mich bei den folgenden Ausführungen zumeist auf diese Festschrift, Seite 8
[26] A.a.O., Seite 9
[27] Es gab offensichtlich einen regen Austausch zwischen Geistlichen aus dem Untereichsfeld (Bistum Hildesheim) und den Gemeinden in Hannover. Das Bistum hat in diesem Austausch der Pfarrer scheinbar eine strategische Absicht verfolgt.
[28] Der angesprochene Feldgeistliche ist niemand anderes als Hermann Iseke, der Verfasser des Eichsfeldliedes. (Festschrift zum 50. Jubiläum von St. Benno, Seite 16)
[29] 1902-2002 Pfarrgemeinde St. Benno, Hannover-Linden (Festschrift zum 100.-jährigen Jubiläum, Hannover 2002. Ich stütze mich bei den folgenden Ausführungen zumeist auf diese Festschrift, Seite 4
[30] Die Tradition wurde auch später noch fortgesetzt mit den Pfarrern Karl Voss (Hilkerode) und Kaplan Bodmann (später Pfarrer in Obernfeld), vgl. Pfarrchronik St. Benno 1902-1952, Seite 45 DISTA_LL_1902_1952_Pfarrchronik_1_St_Benno.pdf - Zugriff am 14.7.2024
[31] Pfarrchronik St. Benno 1902-1952, Seite 51, DISTA_LL_1902_1952_Pfarrchronik_1_St_Benno.pdf
[32] Es wäre sicher interessant, einmal genauer nachzusehen, ob es auch einen regen Austausch von Lehrkräften gegeben hat, die an den verschiedenen katholischen Schulen in Hannover unterrichtet haben. Ein Name wird in der Chronik genannt: Ernst Dreykluft (1872-1941) entstammte einer Duderstädter Lehrerfamilie, spielte mit 11 Jahren die Orgel in St. Cyriakus und war Lehrer an der Benno-Schule und später Konrektor an der Marienschule in Hannover. Außerdem versah er fast 40 Jahre das Amt des Organisten in St. Benno (a.a.O. Seite 77)
[33] A.a.O. Seite 56,
[34] Bernd Rabe: Linden – Der Charakter eines Arbeiterviertels vor Hannover, Hannover 1984, Seite 37
[35] Pfarrchronik St. Benno 1902-1952, Seite 51, DISTA_LL_1902_1952_Pfarrchronik_1_St_Benno.pdf Seite 63
[36] A.a.O. Seite 54
[37] Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, hg. von Edmund Jörg und Franz Binder, Band 89, München 1882
[38] Eine grobe statistische Auswertung ergab, dass bei 6 Eheschließungen der Partner/die Partnerin gebürtig aus Bilshausen war, weitere 19 PartnerInnen kamen aus Hannover (wobei hier unklar bleibt, ob auch sie Wurzeln im Eichsfeld oder anderswo hatten), 15-mal ist Norddeutschland das Herkunftsgebiete und je 6-mal der Raum Harz/Hildesheim, der Raum Northeim, Göttingen, Osterode, und das Gebiet Sachsen/Polen/ Pommern/Schlesien. Der Rest sind einzelne Herkunftsorte zwischen dem Ruhrgebiet und z. B. der österreichischen Hauptstadt Wien - ohne eine erkennbare Häufung.
[39] DISTA_LL_1902_1952_Pfarrchronik_1_St_Benno.pdf, Seite 71, Zugriff am 20.7.2024
[40] A.a.O., Seite 71
[41] 1902-2002 Pfarrgemeinde St. Benno, Hannover-Linden (Festschrift zum 100.-jährigen Jubiläum, Hannover 2002
[42] Die Preußenfreundlichkeit geht wohl zurück auf die Wahl Kopps zum Bischof von Fulda im Jahre 1881, bei der er der einzige Kandidat von mehreren war, dem die Preußen zustimmen wollten.
[43] Klein, Gotthard, Der Volksverein für das katholische Deutschland (1890–1933), in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/der-volksverein-fuer-das-katholische-deutschland-1890%25E2%2580%25931933/DE-2086/lido/57d12812963b54.15744576 (abgerufen am 20.07.2024)
[44] Pfarrchronik St. Benno 1902-1952, Seite 34, DISTA_LL_1902_1952_Pfarrchronik_1_St_Benno.pdf [44]
[45] A.a.O., Anm.: Es wäre sicher interessant, diesen Vorgang bei anderer Gelegenheit etwas näher zu untersuchen, um herauszufinden, welche Rolle dabei die Bilshäuser Gemeindemitglieder gespielt haben. Die Vereinsunterlagen dieser ersten Jahre liegen im Bistumsarchiv in Hildesheim.
[46] Bernd Rabe: Linden – Der Charakter eines Arbeiterviertels vor Hannover, Hannover 1984, Seite 27
[47] A.a.O., Seite 21
[48] A.a.O., vgl. Seite 32
[49] A.a.O., Seite 27
[50] Alfred Krupp: Ein Wort an meine Angehörigen (Rede vom 11.2.1877), zit. bei Glotz/Langenbucher: Versäumte Lektionen, Ein Lesebuch, Frankfurt/Main 1975